1 Vorwort

Prof. Dr. Monika T. Wicki (Hrsg.)

In den letzten Dekaden hat sich die gesellschaftliche Stellung von Menschen mit Beeinträchtigungen weltweit verändert. Dies ist auf das Engagement der Behindertenbewegung zurückzuführen, die sich seit den 70er Jahren, ausgehend von den USA und Grossbritannien, als neue soziale Bewegung konstituierte. Als soziale Bewegung richtete sich die Selbstbestimmt-Leben-Bewegung (in englischsprachigen Ländern: Independent-Living-Movement) gegen die staatliche Behindertenpolitik sowie gegen das Selbstverständnis der Wohlfahrts- und Behindertenorganisationen, der institutionalisierten Behindertenhilfe und der medizinischen und pädagogischen Disziplinen. Insbesondere wandten sie sich gegen eine «entmündigende, aussondernde und oftmals diskriminierende Fürsorge» und forderten ein selbstbestimmtes Leben. Mittels zahlreicher, oft provokativer Aktionen erlangte die Bewegung rasch Einfluss auf den offiziellen politischen Diskurs. 2006 wurde die UNO Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) verabschiedet, die bis heute von 175 Vertragsstaaten unterzeichnet wurde (bspw. Deutschland 2007, Österreich 2008 und die Schweiz 2014). Folgende Artikel der UN-BRK sind für ein selbstbestimmtes Wohnen, Arbeiten und Leben zentral:

Artikel 19 – Unabhängige Lebensführung und Einbeziehung in die Gemeinschaft

Die Vertragsstaaten anerkennen das gleiche Recht aller Menschen mit Behinderungen, mit gleichen Wahlmöglichkeiten wie andere Menschen in der Gemeinschaft zu leben. Dies beinhaltet die freie Wahl des Aufenthaltsortes, sowie der Zugang zu gemeindenahen und inklusiven Unterstützungsmöglichkeiten.

Artikel 23 – Achtung der Wohnung und der Familie

Die Vertragsstaaten beseitigen Diskriminierungen von Menschen mit Behinderungen auf der Grundlage der Gleichberechtigung mit anderen in Fragen der Ehe, Familie, Elternschaft und Partnerschaft und schützen das Recht von Menschen mit Behinderungen, eine Ehe zu schliessen und eine Familie zu gründen.

Artikel 27 – Arbeit und Beschäftigung

Die Vertragsstaaten anerkennen das gleiche Recht von Menschen mit Behinderungen auf Arbeit. Dies beinhaltet das Recht auf die Möglichkeit, den Lebensunterhalt durch Arbeit zu verdienen, die in einem offenen, integrativen und für Menschen mit Behinderungen zugänglichen Arbeitsmarkt und Arbeitsumfeld frei gewählt oder angenommen wird.

Artikel 30 – Teilhabe am kulturellen Leben sowie an Erholung, Freizeit und Sport

Die Vertragsstaaten anerkennen das Recht von Menschen mit Behinderungen, gleichberechtigt mit anderen am kulturellen Leben teilzunehmen. Sie stellen den Zugang sicher und treffen Massnahmen, die gleichberechtigte Ausübung zu ermöglichen.

Adaption der Vorgaben

In vielen Ländern wurden die regulatorischen Rahmenbedingungen geprüft und in komplexen politischen Prozessen angepasst. Eine zentrale Forderung der Selbstbestimmt-Leben-Bewegung war die Veränderung der Finanzierungsmechanismen. So wurde in Deutschland wie auch in der Schweiz eine neue Leistung eingeführt: das Persönliche Budget, bzw. der Assistenzbeitrag. Damit verändert sich das traditionelle Leistungsdreieck: Anstelle einer Finanzierung von Organisationen, die sich um die Betreuung von Menschen mit Beeinträchtigungen kümmern (Objektfinanzierung), tritt eine direkte Finanzierung der Betroffenen Person (Subjektfinanzierung), die sich die benötigten Dienste einkaufen kann. Die Nutzenden entscheiden so selbstständig über die Art, Inhalt, Umfang und Qualität der zu beziehenden Leistung (Egloff, 2017).

Die Subjektfinanzierung ist kein gänzlich neuer Gedanke. Bereits heute gibt es verschiedene subjektfinanzierte Leistungen für Menschen mit Behinderung. Sie werden immer direkt für die Person ausgerichtet und individuell bemessen; angepasst an ihre Situation. Was die Schweiz hingegen nicht kennt, ist eine umfassende Subjektfinanzierung in dem Sinne, dass sämtliche Leistungen der Betreuung und Begleitung von Menschen mit Beeinträchtigungen subjektfinanziert sind (Liesen & Wyder, 2020).

In Deutschland hat der Gesetzgeber mit der Schaffung des Sozialgesetzbuches (SGB) IX schon im Jahr 2001 mit dem Persönlichen Budget in Modellversuchen eine neue Form der Leistung möglich gemacht. Mit diesem Budget können Leistungsempfänger:innen anstelle von Dienst- oder Sachleistungen zur Teilhabe ein Budget wählen. Damit können sie den «Einkauf» der Leistungen eigenverantwortlich, selbständig und selbstbestimmt regeln. Als Expert:innen in eigener Sache entscheiden sie so selbst, welche Hilfen für sie am besten sind und welcher Dienst und welche Person zu dem von ihnen gewünschten Zeitpunkt eine Leistung erbringen soll. Im Januar 2008 wurde das Persönliche Budget als Rechtsanspruch im SGB IX verankert (prognos, 2012). Durch das Bundesteilhabegesetz haben Menschen mit Behinderung in Deutschland seit 2020 einen Rechtsanspruch auf Assistenz. Dazu gehören auch Assistenz-Leistungen im Haushalt und in der Freizeit. Außerdem gibt es Assistenz für Mütter und Väter mit Behinderung, bei der Versorgung und Betreuung ihrer Kinder (Sozialgesetzbuch 9, Paragraf 4).

Seit 2012 gibt es auch in der Schweiz ein Assistenzbudget. Handlungsfähige Personen, die eine Hilflosenentschädigung (Leistungen der Sozialversicherung bei Beeinträchtigung) beziehen und zu Hause wohnen oder aus einem Heim austreten, können seither einen Assistenzbeitrag beantragen. Prognostiziert wurden durchschnittlich 3‘000 Assistenzbeziehende. Bis Ende 2015 wurde für insgesamt 1‘677 erwachsene Personen mindestens einmal eine Rechnung für Assistenz vergütet. Das sind 4,8% der erwachsenen Personen mit Hilflosenentschädigung (HE) bzw. 7,7 % der zu Hause wohnenden HE-Beziehenden. Von den insgesamt 1‘677 erwachsenen Assistenzbeziehenden wohnten 85 vor dem erstmaligen Bezug der Assistenz in einem Heim. Dies entspricht rund fünf Prozent aller Assistenzbeziehenden. Bezogen auf die Population aller 12‘900 Heimbewohner:innen haben sich 0.65 Prozent dieser Personen für einen Heimaustritt und den Bezug eines Assistenzbeitrages entschieden. Auf mögliches Verbesserungspotential angesprochen, wird an erster Stelle eine Vereinfachung des administrativen Ablaufs (48 Prozent) und an zweiter Stelle die Ausweitung des Hilfebedarfs (28 Prozent) genannt. Der Trend der sozial- und gesundheitspolitischen Entwicklungen in den Kantonen Bern und Thurgau sowie Vorstöße zur Subjektfinanzierung (Geldleistungen werden nicht Wohneinrichtungen sondern direkt den Personen zugestellt) gehen in Richtung der Flexibilisierung von stationären hin zu mehr gemeindenahen, inklusiven Angeboten (Guggisberg & Bischof, 2016).

Sowohl in Deutschland und der Schweiz als auch in vielen Ländern, welche die UN BRK ratifiziert haben und damit das Selbstbestimmungsrecht von Menschen mit Beeinträchtigungen stärken, wird es künftig mehr Assistenzpersonen brauchen.

Die Bedeutung von Assistenzleistungen

Heilpädagogische Arbeit ist eine komplexe Angelegenheit. Man erkennt dies nicht zuletzt daran, dass es schwierig zu sein scheint, die Tätigkeiten, die Heilpädagogen beruflich ausüben, auf einen treffenden Begriff zu bringen: Welche zwischenmenschlichen Vollzüge meinen wir, wenn wir von Heilpädagogik reden? Erziehung? Bildung? Aktivierung? Betreuung? Intervention? Oder Assistenz? Das Wort Assistenz geht zurück auf ein Kompositum des lateinischen Verbes sistere. Sistere lässt sich übersetzen mit «stellen» oder «sich stellen», «anhalten» oder «stehen bleiben», während die lateinische Vorsilbe ad- «hin» oder «hinzu» bedeutet. Adsistere heisst also etwa «sich hinzustellen», «dabeistehen», «hintreten», «beistehen» oder auch «unterstützen» (Mohr, 2006).

Eine umfassende Konzeption der Assistenz hat Georg Theunissen entwickelt. Diese wird im Beitrag von Mohr (2006) übersichtlich dargestellt. Demnach wird professionelles Handeln als in seiner Gesamtheit in lebensweltlichen Zusammenhängen wirkende «ressourcenorientierte Assistenz» begriffen. Diese umfasst:

  • Lebenspraktische Assistenz: pragmatische Hilfen zur Alltagsbewältigung.
  • Dialogische Assistenz: Herstellung und Fundierung einer vertrauensvollen Beziehungsgestaltung und kommunikativen Situation.
  • Konsultative Assistenz: gemeinsame Beratung in Bezug auf psychosoziale Probleme, Lebenspläne, Lebensziele, Zukunft.
  • Advokatorische Assistenz: Anwaltschaft, Fürsprecherfunktion, Stellvertretung, Dolmetschdienste.
  • Facilitatorische Assistenz wegbereitende Unterstützung

Mohr (2006) plädiert für einen wenig weitgehenden Assistenzbegriff. Er schreibt: Assistenz meint Tätigkeiten der Hilfe oder Dienstleistung bezüglich der Aktivitäten eines beeinträchtigten Menschen, sofern die (bewussten) Ziele, Zwecke und Inhalte dieser Hilfen, Dienstleistungen und Aktivitäten durch den jeweiligen beeinträchtigten Menschen bestimmt werden. Assistenz in diesem Sinne ist beispielsweise denkbar

  • als Beratung, dann könnte man von konsultativer Assistenz reden,
  • als Interessenvertretung, das wäre advokatorische Assistenz oder
  • im lebenspraktischen Bereich, was man praktische Assistenz nennen kann (Mohr, 2006).

Diese Einführung in die Assistenz soll einen Beitrag dazu sein, Personen, welche Assistenz leisten, einen Einblick in die Tätigkeitsfelder über die Lebensspanne zu geben. Die Texte wurden im Sommersemester 2021 durch Studierende vom zweiten bis zum fünften Semester im Rahmen eines Seminars zur pädagogischen Begleitung von Menschen mit komplexer Beeinträchtigung an der Humboldt Universität Berlin verfasst. Für die Bereitschaft, an diesem Projekt teilzunehmen, danke ich allen Autor:innen herzlich.

Zürich, 16. Oktober 2021, Monika T. Wicki, Prof. Dr.

Literatur

Lizenz

Icon für Creative Commons Namensnennung-Nicht kommerziell-Keine Bearbeitung 4.0 International

Einführung in die Assistenz Copyright © 2021 by Prof. Dr. Monika T. Wicki (Hrsg.) is licensed under a Creative Commons Namensnennung-Nicht kommerziell-Keine Bearbeitung 4.0 International, except where otherwise noted.