3 Selbstbestimmung durch Dialogische Assistenz bei Menschen mit Komplexen Behinderungen

Flora Fuchs

In diesem Abschnitt wird die Frage gestellt, wie das Konzept der Dialogischen Assistenz dazu beitragen kann, die Selbstbestimmung von Menschen mit Komplexen Behinderungen zu verbessern. Menschen mit solchen Behinderungen haben in der Regel einen umfassenden Unterstützungsbedarf und wohnen oft in stationären Einrichtungen, die für ihre pflegerische Versorgung und sonderpädagogische Begleitung im Leben Verantwortung tragen.

Menschen mit Komplexen Behinderungen sind lebenslang auf Unterstützung angewiesen, weshalb eine Neuformulierung des Rollenverständnis von Unterstützungsdiensten eine notwendige Entwicklung in der Verbesserung der Lebensbedingungen und Selbstbestimmung von Menschen mit Komplexen Behinderungen ist. Aufgrund der Vielzahl der personenbezogenen, institutionellen und personalen Faktoren, die auf die Ermöglichung von Selbstbestimmung einwirken, kann im Rahmen dieses Kapitels nur eine Annäherung an mögliche Handlungsempfehlungen erfolgen.

Im Folgenden wird nach einer Einordnung des Personenkreises der Komplexen Behinderung und einer theoretischen Eingrenzung von Selbstbestimmung, das Konzept der Dialogischen Assistenz vorgestellt.

Personenkreis «Komplexe Behinderung»

Der Kreis der Personen mit schwereren, mehrfachen oder Komplexen Behinderungen wird in der Literatur nur unscharf definiert und es gibt eine Vielzahl an Begriffen. Eine mögliche Definition besagt: «Menschen mit schwerster Behinderung bedürfen bei (nahezu) allen Aktivitäten des täglichen Lebens der Hilfe und Zuwendung Anderer. Sie verfügen über basale Kompetenzen zur Selbstregulation und zur Auseinandersetzung mit ihrer Umwelt. Diese Kompetenzen gilt es für die Förderung und Begleitung anzusprechen und zu nutzen» (Mohr 2019, 314). Fornefeld (2008) schuf den Ausdruck der «Menschen mit Komplexen Behinderung», wobei der Begriff «Komplex» die individuellen Lebensbedingungen, die mit den konzeptionellen, institutionellen, strukturellen und gesellschaftlichen Lebenskontexten verflochten sind, beschreiben soll (vgl. Fornefeld 2008, 76 zit. n. Terfloth 2016, 258). Hinzu kommt, dass Menschen mit Komplexen Behinderungen verstärkt Exklusionsrisiken ausgesetzt sind: «Sie über- bzw. unterschreiten alle gängigen Klassifikationsschemata und werden aufgrund ihrer intellektuellen, physischen und/ oder psychischen Beeinträchtigung sowie ihrer deprivierenden Lebensumstände an gesellschaftlicher Teilhabe gehindert» (Fornefeld 2007, 49f. zit. n. ebd., 259). Wie kann, trotz erhöhter sozialer Abhängigkeit und schwerer kognitiver Beeinträchtigung ein individuelles Maß an Selbstbestimmung erreicht werden? Im nachfolgenden Abschnitt wird die Entstehung der Selbstbestimmungsdebatte und der Stellenwert der Selbstbestimmungen für Menschen mit Behinderungen beleuchtet, um im Anschluss die besonderen Bedürfnisse und Herausforderungen in der Verbesserung von Selbstbestimmung im Alltag von Menschen mit Komplexen Behinderungen herauszustellen.

Selbstbestimmung

Die Entdeckung der Selbstbestimmung in den 1960er Jahren

Selbstbestimmung ist neben der Forderung nach Normalisierung und Inklusion Leitbild der Behindertenhilfe in Deutschland (vgl. Theunissen 2010; Klauß 2003; Osbahr 2000). Die Debatte um Selbstbestimmung und individuelle Entscheidungsmacht für Menschen mit geistigen Behinderungen wird seit Mitte der 1990er Jahren geführt und hat die Sicht auf die Potenziale von Menschen mit Behinderungen und die Umstände, in denen sie leben, beeinflusst. Dass die Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderung keine Selbstverständlichkeit ist, zeigt Klauß (2003): «Tatsächlich entscheiden Menschen mit geistiger Behinderung sehr viel weniger über sich und ihre Lebensumstände als andere Bürger unseres Landes» (Klauß 2003, 83). Die Forderung nach mehr Selbstbestimmung im Leben von Menschen mit Behinderungen und dem allgemeinen Zuspruch selbstbestimmender Kompetenzen steht im deutlichen Kontrast zur medizinisch-defizitorientierten Perspektive des traditionellen Rehabilitationswesens, die lange Zeit die Sonderpädagogik determinierte (vgl. Loeken & Windisch 2013, 23). Nachdem jahrzehntelang «[…] die Kultur des Helfens ausschließlich an Defiziten, Defekten, Entwicklungsstörungen, Krankheitsfaktoren, Mängeln oder Problemen» (Theunissen 2002a, 139) ausgerichtet wurde, steht diese Praxis heute in heftiger Kritik. Fachleute erkannten dass «Konzepte, die defizitorientiert auf Instruktionen oder Interventionen hinauslaufen, im Endeffekt Abhängigkeiten, Unselbstständigkeit und Hilflosigkeit ihrer Adressaten aufrechthalten und somit keine angemessenen Beiträge zu (Wieder-)Gewinnung von Lebenskräften, psychischer Stabilität, Lebenskontrolle und -autonomie leisten» (ebd., 139). Selbstbestimmung wird seit den Bürgerrechtsbewegungen der 1960er und 1970er Jahre von Betroffenen und Vertreter:innen der Behindertenhilfe mit verschiedenen normativen, gesellschaftlichen und individuellen Forderungen verbunden. Die Betroffenen wendeten sich gegen implizite Bevormundung, Entmündigung und Entwertung durch soziale Dienste und Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen. Sie wollten und wollen als «Experten in eigener Sache» anerkannt und ernst genommen werden (vgl. Theunissen 2002a, 139). Die Kritik an Fremdbestimmung und paternalistischen Strukturen auf institutioneller und fachlicher Ebene in der Auseinandersetzung und dem Umgang mit Behinderung führte zu der zentralen Forderung nach größtmöglicher Kontrolle über das eigene Leben (vgl. Loeken & Windisch 2013, 23; Schallenkammer 2016, 35). Die Entwicklung des Menschen konstatiert sich immer im Wechselspiel von Individuum und sozialer Umwelt, genauso entfaltet sich Selbstbestimmung im «[…] Zusammenspiel individueller und sozialer Faktoren» (Theunissen & Plaute 2002, 23 zit. n. Klauß 2003, 98). Deshalb ist neben der gesellschaftlich-kritischen Perspektive auf Selbstbestimmung auch die Betrachtung von Selbsttätigkeit als Charakteristikum menschlicher Entwicklung und menschlichen Lernens ein wichtiger Bestandteil der Analyse, wenn es darum geht, herauszufinden wie die Selbstbestimmungsfähigkeit von Menschen mit geistiger Behinderung gestärkt werden kann (vgl. Osbahr 2000, 167).

Definition des Selbstbestimmungsbegriffs

Nach Hahn (1999) ist Selbstbestimmung ein «Wesensmerkmal des Menschen» (Hahn 1999, 26). In seiner anthropologischen Definition von Selbstbestimmung behauptet er, dass jeder Mensch nach Selbstbestimmung strebt, weil diese unmittelbar mit dem Erlangen von Wohlbefinden verknüpft ist (vgl. Hahn 1999, 14 ff zit. n. Loeken & Windisch 2013, 25). Zeitgleich ist Behinderung für ihn grundsätzlich durch «ein Mehr an sozialer Abhängigkeit» und durch die erschwerte Realisierung von humanen Autonomiepotentialen gekennzeichnet (vgl. ebd., 25). Menschen mit Behinderungen machen häufiger die Erfahrung von Fremdbestimmung als Menschen ohne eine solche Beeinträchtigung, weshalb Selbstbestimmung für sie die Befreiung aus Abhängigkeit, sozialer Kontrolle und (psychiatrischer) Definitionsmacht bedeutet (vgl. Stinkes 2000, 170 zit. n. Klauß 2003, 90). Erfahrungen der Ohnmacht und Machtlosigkeit gegenüber Fachkräften in sozialen Einrichtungen sind deshalb wichtige Themen in der Wiedererlangung von Selbstbestimmung und Entscheidungskraft. Die Selbstbestimmungsforderung zielt vor allem darauf ab, diese Entscheidungsmacht an den Menschen zurückzugeben und etablierte Bevormundung abzubauen (vgl. Klauß 2003, 90).

Menschen mit (geistigen) Behinderungen sollen zu einem autonomen und selbstbestimmten Leben, statt als Objekt öffentlicher Fürsorge zum «Subjekt der eigenen Lebensplanung» befähigt werden und damit aus der Unmündigkeit herausgeführt werden (vgl. Mesdag /Pforr 2008, 8 zit. n. Schallenkammer 2016, 38). Terfloth (2016) gibt in diesem Zusammenhang zu bedenken, dass die üblichen Beobachtungs- und Deutungsschemata, Erwartungen an Selbstbestimmung und Teilhabe bei dem Personenkreis der Komplexen Behinderung nicht greifen (vgl. Terfloth 2016, 258).

Schwierigkeiten der Selbstbestimmung bei Menschen mit Komplexen Behinderungen

Das Zusammenspiel schwerwiegender körperlicher und kognitiver Einschränkungen beeinträchtigt die Kontaktanbahnung und -haltung. Menschen mit Komplexer Behinderung können ihre Bedürfnisse und Wünsche nicht ausreichend ausdrücken. Daher sind sie in allen Lebensbereichen auf existentielle Weise von der Zuwendung der Bezugsperson abhängig (ebd., 258).

Die Lebensbedingungen dieses Personenkreises sind in hohem Maße durch Einstellungen, Entscheidungen und Handlungen derer bestimmt, die Verantwortung dafür tragen – im Bereich von Politik und Verwaltung durch diejenigen, die Rahmenbedingungen setzen; innerhalb von Organisationen und Institutionen durch die, die ihnen Hilfe gewähren; in der Gemeinde, in der sie leben und im Wohnalltag durch das Handeln der Mitarbeitenden (vgl. DHG 2021, 19). Die Beteiligung an der Gestaltung der eigenen Lebenssituationen ist für Menschen mit komplexem Unterstützungsbedarf nicht selbstverständlich, ihre Fähigkeiten zur Selbstbestimmung und Mitwirkung werden oftmals in Frage gestellt.

Dialogische Assistenz

Welchen Einfluss haben Fachkräfte auf die Ermöglichung bzw. Beschränkung von Selbstbestimmung im Alltag ihrer Klienten? Braucht es ein neues Rollenverständnis von Heil- und Sonderpädagogen, im Sinne eines paradigmatischen Wechsels; vom Betreuenden zum persönlich Assistierenden?

Eine zentrale Forderung von Vertreter:innen der Selbstbestimmt-Leben-Bewegung ist die Etablierung von individualisierten Hilfen, wie sie sich im Konzept der persönlichen Assistenz wiederfinden (vgl. Steiner 2002, 171; Loeken 2005, 121). Das Modell der Persönlichen Assistenz wurde als Gegenmodell zum gängigen Hilfeverhältnis entwickelt, «[…] um dem in der helfenden Beziehung immanenten Abhängigkeitsverhältnis entgegenzuwirken und die Hilfenehmenden mit mehr Macht auszustatten» (Lenz et al. 2010, 14). Ziel ist es, gängige Hierarchien und Machtverhältnisse in Hilfestrukturen aufzulösen, um Entscheidungskompetenzen an den Menschen mit Behinderung zurückzugeben. In Form eines Arbeitgeber:innen Modells soll die Hilfe und Unterstützung durch die Empfänger:innen eigenständig, selbstbestimmt und weitestgehend unabhängig organisiert werden, damit sie eine höhere Regiekompetenz über ihr eigenes Leben haben (vgl. Loeken 2005, 121; Lenz et al. 2010,14). So soll das Risiko der Fremdbestimmung möglichst klein gehalten werden. Die Ablösung der Orientierung an Defiziten soll durch eine ressourcenorientierte «Stärken-Perspektive», die auf Akzeptanz der Betroffenen als Experte in eigener Sache setzt, erfolgen (vgl. Theunissen 2002b, 180 zit. n. Loeken 2005, 124; Steiner 2002).

Das Konzept der persönlichen Assistenz stammt ursprünglich von sinnes- und körperbeeinträchtigten Menschen und muss deshalb für die Bedürfnisse von Menschen mit Komplexen Behinderungen angepasst werden. Ihr Unterstützungsbedarf ist komplex und kann nicht auf einzelne Aktionen reduziert werden. Osbahr (2000) schlägt daher die Erweiterung des Ursprungskonzeptes der persönlichen Assistenz als ressourcenorientiertes, subsidiäres Unterstützungs- bzw. Begleitungskonzept vor, das durch sensible Wahrnehmungsfähigkeit der Fachkräfte auf die Entwicklungs-, Entscheidungs- und Handlungsbedürfnisse ihrer Klienten eingeht (vgl. ebd., 145). Hier soll die Umkehrung der Definitionsmacht auf den Menschen mit Behinderungen als Experte in eigener Sache durch eine dynamische, beziehungsoffene, wertschätzende Beziehung zwischen Begleiter:in und beeinträchtigtem Menschen die Grundlage für eine gemeinsame Arbeit sein (vgl. ebd.). Die Dialogische Assistenz fordert eine ganzheitliche Perspektive, die die Wechselwirkungen der vielfältigen individuellen Bedürfnisse erkennt und auf der Handlungsebene integriert.

Ein komplexes Assistenzkonzept:

  • bedarf assistierter Entscheidungen und Regiekompetenzen, um selbstbestimmte Entscheidungen und Partizipation überhaupt zu ermöglichen (vgl. Graumann 2019 zit. n. DHG 2021, 30).
  • muss sowohl fachlich als auch teilhaberechtlich «komplexe Beziehungs- und Interaktionsgestaltungsfragen» einbeziehen (vgl. Conty et. al. zit. n. ebd.,30).
  • ist ein professioneller Prozess im Rahmen dialogischer Beziehungen, der Möglichkeiten und Raum bietet, die Befindlichkeiten, Wahrnehmungen und Bedürfnisse von Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen zu entschlüsseln und ihnen unter Wahrung der eigenen Kontrolle über das eigene Leben die notwendige Unterstützung zu bieten, damit sie ihren Alltag selbstbestimmt gestalten können (vgl. ebd.).
  • muss Selbstbestimmungs- und Teilhabepotentiale entdecken und entsprechende Unterstützungsprozesse planen, gestalten und gemeinsam fortentwickeln (vgl. ebd.).

Für die Umsetzung dieser Ziele sind Einrichtungen und Dienste aufgefordert, die Förderung der kommunikativen Kompetenzen und die Partizipation von Menschen mit Komplexen Behinderungen konzeptionell und strukturell zu verankern. Die Mitarbeiter:innen sind entsprechend zu qualifizieren und die Einrichtung muss die Rahmenbedingungen dafür schaffen, dass Menschen mit Komplexen Behinderungen mehr zugehört wird.

Für Menschen mit Komplexen Behinderungen wird die Umsetzung der Dialogischen Assistenz durch die besonderen Formen ihrer Wahrnehmung und Kommunikation erschwert. Fröhlich (1998) hat in diesem Zusammenhang das Konzept der Basalen Stimulation entworfen, um eine Verbesserung in der kommunikativen Interaktion zwischen Assistenten und Menschen mit Komplexer Behinderung zu bewirken. Das Konzept der Basalen Kommunikation versucht durch von außen zugeführte somatische, vestibuläre, vibratorische sowie audiorhythmische, orale, olfaktorische, visuelle und taktile Reize, die sich auf die unmittelbare Körpersphäre beziehen, eine innere Auseinandersetzung mit der Umwelt zu ermöglichen (vgl. Terfloth 2016, 158). Die Erkundung der individuellen Wünsche und Interessen ist insbesondere bei stark eingeschränkter Kommunikationskompetenz eine große Herausforderung.

Handlungsempfehlungen

Aufgrund der hohen Individualität der personenbezogenen Kompetenzen, die die Autonomieentwicklung und Förderung bei Menschen mit geistigen Behinderungen determinieren, erscheinen normativ gefasste Handlungs- und Erziehungsgrundsätze oder idealisierte, autonomieförderliche Modelle professionellen Handelns als unangemessen (vgl. Rock 2001, 169). Es können aber Empfehlungen formuliert werden:

Die Assistenz und Teilhabe von Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen und komplexem Unterstützungsbedarf ist eine anspruchsvolle Tätigkeit. Sie umfasst auch die Unterstützung von Aspekten der sogenannten ‚Regiekompetenz‘. Sie erfordert entsprechende fachliche und persönlichkeitsbezogene Kompetenzen und kann auch die Aufgabe der stellvertretenden Deutung und Entscheidung beinhalten (Seifert 2009 zit. n. DHG 2021, 30).

Komplexe Assistenzleistungen umfassen «individuell passende Wohn- und Unterstützungsarrangements» (Seifert 2010 zit. n. ebd., 36), was bedeutet, passende Kommunikations- und Interaktionsstrukturen mit vertrauten Bezugspersonen in einem verlässlichen Lebensraum und Unterstützungssystem zu etablieren. Menschen mit Komplexen Behinderungen erschließen sich vor allem in elementaren Bereichen des Lebens Möglichkeiten, auf deren Gestaltung sie unmittelbar Einfluss nehmen können; z. B. bei der Wahl von Speisen oder Getränken oder bei der Körperpflege und Freizeitbeschäftigung. Sie signalisieren Zustimmung, Ablehnung oder Verweigerung und können deshalb durchaus in die Entscheidungsprozesse miteinbezogen werden.

Bei komplexem Unterstützungsbedarf ist oftmals eine 24-Stunden-Assistenz unabdingbar. Wenn herausforderndes Verhalten wie fremd- oder selbstverletzendes Verhalten hinzukommt, kann zeitweise oder dauerhaft eine intensive Assistenz unter Einschluss von Krisendiensten sowie Konzepten und Maßnahmen der Gewaltprävention und Krisenintervention erforderlich sein (vgl. HDHG, 41).

Hervorgehoben wird, dass hierfür insbesondere kleinere Wohnformen in regionalen Verbundsystemen mit professionellen Assistenten und informellen Unterstützer:innen in Form einer inklusiven sozialräumlichen Struktur besonders förderlich sind (vgl. ebd.). Allerdings leben ca. 70% aller Menschen mit Lernschwierigkeiten und mehrfacher Behinderung in Deutschland in Institutionen mit 40 oder mehr Plätzen (Großeinrichtungen) (vgl. Theunissen, 2010, 63). Große Institutionen wie diese stehen in der Kritik, da man heute weiß, dass strukturelle und institutionelle Gewalt von ihnen ausgeht, welche dann zu dauerhafter Schädigung der Bewohner:innen führen kann (vgl. Theunissen 2010, 61). In diesem Zusammenhang wurden Verhaltensstörungen, selbst- und fremdverletzendes Verhalten, ein gestörtes Selbstbild mit mangelndem Zutrauen und Selbstwertgefühl, «erlernte Hilflosigkeit» (Seligmann, 2016) sowie erlernte Bedürfnislosigkeit (Theunissen, 2005) als «Institutionalisierungseffekte bzw. Hospitalisierungen» beobachtet (ebd., 61.). Menschen mit Komplexen Behinderungen brauchen also Wohnformen, die kleiner sind und somit auf ihre individuellen Bedürfnisse und Kommunikationsweisen eingehen. Menschen mit komplexen Behinderungen und ihre Assistenten sind auf die verstärkte inklusive Nutzung der sozialen Infrastruktur sowie auf funktionsfähige Beratungsstrukturen und spezialisierte Dienste vor Ort und in den Regionen angewiesen (vgl. ebd., 42). Bezugnehmend auf die Forderungen der UN-Behindertenrechtskonvention sollten die Deinstitutionalisierung und der Auf- und Ausbau inklusiver kleiner Wohnformen unabhängig vom Unterstützungsbedarf weiter angegangen werden (vgl. Deutsches Institut für Menschenrechte, Monitoringstelle 2019 zit. n. ebd.).

Fazit

Je komplexer die Beeinträchtigungen sind, desto stärker ist die soziale Abhängigkeit von anderen Menschen. Das betrifft die Lebensführung und Selbstversorgung, die Mobilität sowie die materiellen, psychosozialen und emotionalen Bedürfnisse. Die grundsätzliche Herausforderung in der Unterstützung von Menschen mit Komplexen Behinderungen ist die Kommunikation. Aufgrund ihrer teilweise stark eingeschränkten Wahrnehmungs- und Kommunikationsstrategien kann nicht immer eindeutig bestimmt werden, welche Wünsche und Bedürfnisse sie haben. Dennoch kann auf Grundlage einer dynamischen, beziehungsoffenen und wertschätzenden Beziehung mit viel Geduld und Empathie und den Kommunikationsmethoden der Basalen Stimulation versucht werden, sich an die Wünsche der betroffenen Personen anzunähern und stets im Austausch mit ihnen zu bleiben. Im Kontext Komplexer Behinderung ist es nicht die Aufgabe herauszufinden, was der exakte Wunsch der Personen ist. Es ist vielmehr dafür Sorge zu tragen, zu wissen, was sie mögen oder mögen könnten und dann die alltägliche Begleitung an diesen Präferenzen zu orientieren. Für Fachkräfte ist «eine ausgeprägte Haltung der Achtsamkeit, ein hohe Beziehungsqualität und eine in Planung, Handeln und Reflexion [notwendig], um Bedürfnisse und Probleme zu erkennen und zu verstehen, auch nonverbal oder in herausforderndem Verhalten» (DHG 2021, 30). Sicherlich ist es auch von großer Bedeutung, die Qualifizierung der Fachkräfte und innerbetriebliche Strukturen zum Austausch, zur Beratung, zur Reflexion und zum Empowerment innerhalb des Teams weiter auszubauen, damit die herausfordernde und anspruchsvolle Aufgabe der personenzentrierten, persönlichen, Dialogischen Assistenz von Menschen mit Komplexen Behinderungen verantwortungsvoll und erfolgreich ausgeführt werden kann.

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