10 Assistenz am Lebensende

Prof. Dr. Monika T. Wicki (Hrsg.)

Einleitung

Menschen mit Behinderungen werden heute älter als früher (Ding-Greiner & Kruse, 2008). Im Alter treten aber häufiger unheilbare Krankheiten auf; der Betreuungsaufwand nimmt zu und oft brauchen die Menschen eine palliative Versorgung (im Folgenden: Palliative Care). Palliative Care «umfasst medizinische Behandlungen, pflegerische Interventionen, psychische, soziale und spirituelle Unterstützung in der letzten Lebensphase» und sie «verbessert die Lebensqualität von Menschen mit unheilbaren, lebensbedrohlichen und chronisch fortschreitenden Krankheiten» (BAG & GDK, 2009, S. 9). Diese ganzheitliche und umfassende Pflege und Betreuung am Lebensende sicherzustellen, ist für alle, die die Menschen mit Beeinträchtigungen am Lebensende begleiten, eine grosse Herausforderung. Dies einerseits, weil den oft pädagogisch geschulten Betreuungspersonen der pflegerische Hintergrund fehlt. Andererseits, weil es oft schwierig ist, zu beurteilen, ob eine Person mit einer kognitiven Beeinträchtigung in Bezug auf die zu treffenden Entscheidungen am Lebensende urteilsfähig ist oder nicht.

Pflegende und Betreuende werden durch die zu treffenden Entscheidungen stark belastet und der Einbezug der Person mit einer kognitiven Beeinträchtigung bei den Entscheidungen am Lebensende ist für die Betreuenden eine grosse Herausforderung. Zu den Faktoren, die von den Betreuenden und Pflegenden als unterstützend beschrieben wurden, gehören:

  • das Dokumentieren der Wünsche und Bedürfnisse der Person,
  • die strukturell verankerte interdisziplinäre Zusammenarbeit,
  • die permanente Verfügbarkeit einer Ärztin oder eines Arztes,
  • Weiterbildungen,
  • klare Vorgaben, was in Notfällen geschehen sollte (Wicki, 2021).

Entscheidungen zu Behandlung und Betreuung

Urteilsfähige Patient:innen haben heute ein Anrecht darauf, über Behandlung und Betreuung in Medizin und Pflege selber zu entscheiden. In der Bundesverfassung wird dem Menschen ein grundsätzliches Anrecht auf physische und psychische Integrität gewährt. Da ein medizinischer Eingriff eine Körperverletzung darstellt, muss der oder die Patient:in die Einwilligung dazu geben und kann einen geplanten Eingriff auch verweigern (Naef, Baumann- Hölzle & Ritzenthaler-Spielmann, 2012, S. 3).

Patient:innen haben das Recht, in persönlichen Angelegenheiten für den Fall der Geschäfts- und/oder Einwilligungsunfähigkeit infolge einer Krankheit oder hohen Alters vorzusorgen. Verschiedene Möglichkeiten bieten sich an: Patientenverfügung, Vorsorgevollmacht und Betreuungsverfügung. Dies wird in Deutschland im Bürgerlichen Gesetzbuch § 1901a Patientenverfügung und weitere definiert, in der Schweiz im Kinder- und Erwachsenenschutzgesetz.

Der Vorsorgeauftrag oder die Patientenverfügung sind Maßnahmen, die Personen selber treffen können, um festzulegen, was geschehen soll, sollten sie je einmal die Urteilsfähigkeit verlieren. Der Vorsorgeauftrag ist ein Instrument, um Anordnungen für nichtmedizinische Fragen zu treffen. Eine Patientenverfügung ist eine schriftliche Willensäusserung einer urteilsfähigen Person, mit der sie für den Fall der eigenen Urteilsunfähigkeit Anordnungen bezüglich ihrer medizinischen Versorgung trifft. Fehlen Vorsorgeauftrag oder Patientenverfügung so hat eine gesetzlich klar geregelte Personenreihe die Möglichkeit, stellvertretend zu handeln: zunächst der Beistand oder die Beiständin, bzw. die gesetzlichen Betreuer:innen, die Ehegatten oder eingetragenen Partner, die Person, die im gemeinsamen Haushalt lebt und ihr regelmässig und persönlich Beistand leistet, die Nachkommen, die Eltern oder die Geschwister (Naef et al., 2012, S. 53).

Müssen medizinische Eingriffe oder auch Entscheidungen am Lebensende von Kindern und anderen einwilligungsunfähigen Personen getroffen werden, so ersetzt nicht der Wille der Ärzteschaft oder anderer Personen den Willen des Betroffenen. Auch Kinder können einer medizinischen Maßnahme zustimmen oder sie ablehnen, wenn sie als entscheidungsfähig eingestuft sind, die Krankheit, deren Folgen, die Folgen der Maßnahmen oder die Folgen der zu treffenden Entscheidungen verstehen und ihren Willen formulieren können. Ist dies nicht der Fall, müssen die Ärzte und die Pflegenden den mutmaßlichen Willen der Person eruieren. Das heißt, sie müssen herausfinden, was die betroffene Person wollen würde, wenn man sie fragen könnte. Dabei werden frühere mündliche Äußerungen des Patienten oder der Patientin, Aussagen von Personen, welche den oder die Patient:in als Vertreter:in in medizinischen Angelegenheiten bestimmt hat, Aussagen von anderen nahestehenden Personen und Aussagen von gesetzlichen Vertretern beigezogen. Ist aufgrund einer Notsituation keine Zeit für eine umfassende Abklärung des mutmaßlichen Willens der Person, so ist das medizinische Personal verpflichtet, im wohlverstandenen Interesse der Patientin oder des Patienten zu handeln (Naef et al., 2012).

Die Urteilsfähigkeit

Eine Patientenverfügung können nur Personen verfassen, die als urteilfähig eingestuft werden. Die Beurteilung von Urteilsfähigkeit beinhaltet aber immer auch ein Abwägen moralischer Prinzipien. Es sind nicht die Fähigkeiten der Person allein, die dazu führen, dass jemand urteilsfähig ist oder nicht. Das Beurteilen der Urteilsfähigkeit ist ein Zuschreibungsprozess von außen. Es geht nicht um die Frage, ob jemand urteilsfähig ist oder nicht, sondern darum, ob jemand durch eine (qualifizierte) außenstehende Person als urteilsfähig erklärt werden soll oder nicht. Es geht nicht darum, zu klären, ob der oder die Patient:in fähig ist, selber zu entscheiden, sondern darum, ob die Person selber entscheiden darf (Trachsel, Hermann & Biller-Andorno, 2014). In diesem Prozess wird abgewogen zwischen dem Ausmaß der Entscheidung und dem Schutz der Person.

Nach dem Neurowissenschaftler Damásio (1995) gilt eine Person als entscheidungsfähig, wenn

  • sie die verschiedenen Handlungsoptionen erkennt,
  • deren Konsequenzen abschätzen
  • und eine Entscheidung treffen kann,
  • die sich als logische Schlussfolgerungen aus ihren persönlichen Zielen und Gründen herleiten lässt.

Jemand, den man demnach als urteilsfähig bezeichnen darf, muss also die Informationen verstehen, Konsequenzen von Handlungsoptionen vorausschauend abschätzen können, eine Entscheidung treffen, äußern und begründen können.

Da es für viele Personen mit Komplexer oder kognitiver Beeinträchtigung nicht möglich ist, die Anforderungen an die Urteilsfähigkeit (Informationen verstehen, Konsequenzen abschätzen, Entscheid fällen, äußern und begründen) vollständig zu erfüllen, ist es umso wichtiger, ihre Wünsche, Träume und Hoffnungen im Hinblick auf ihr Lebensende zu kennen und zu dokumentieren.

Eine Weiterentwicklung der Patientenverfügung stellt die Idee der vorausschauenden Behandlungsplanung («Advance Care Planning») dar. Es geht dabei darum, Patient:innen die Möglichkeit zu bieten, im Rahmen eines Gesprächsprozesses rechtzeitig und auf der Basis fachkundiger Beratung ihre eigenen Behandlungswünsche für den Fall festzulegen, dass sie ihre Urteilsfähigkeit verlieren. Gleichzeitig werden diese Prozesse von eigens geschulten, im Gesundheitsbereich tätigen Personen geleitet, sodass die Wünsche und Präferenzen der Sterbenden bei den Behandelnden bekannt sind und alle Involvierten informiert sind.

Die Gesundheitliche Vorausplanung

Die Vorausplanung (Antizipation) im Gesundheitswesen ist ein aktiver, von allen Beteiligten gleichermaßen getragener kommunikativer Prozess mit verschiedenen Ebenen der Konkretisierung. Am Anfang des Prozesses steht das Erarbeiten von individuellen Präferenzen, das Erfragen von Wünschen, Werten, sowie von Zielen und dem Lebenswillen der betroffenen Personen. Diese Themen gehen häufig weit über den gesundheitlichen Bereich hinaus. Auf dieser Grundlage finden die weiteren Planungs- und Konkretisierungsschritte statt, die zu verschiedenen Zeitpunkten mit unterschiedlichem Detaillierungsgrad erfolgen können.

Es können drei verschiedene Ebenen der Vorausplanung unterschieden werden:

  1. Die allgemeine Vorausplanung (engl. planning) umfasst das Planen in unterschiedlichen Lebensbereichen, nicht nur gesundheitsbezogene Fragen. Als Dokumentationsform für die allgemeine Vorausplanung bieten sich bspw. ein Vorsorgeauftrag, ein Testament oder die verbindliche Regelung finanzieller Fragen an.
  2. Die krankheitsspezifische Vorausplanung für Betreuung und Behandlung (engl.: care planning) ist ein strukturierter und fortlaufender Prozess zwischen betroffenen Personen und ihren Angehörigen und Fachpersonen, um individuelle Behandlungswünsche zu definieren und zu dokumentieren. Inhaltlich werden konkrete Krankheitsbilder bzw. -situationen diskutiert, da es sich hier besonders häufig um mögliche Komplikationen handelt. Die Planung bezieht sich auf Situationen in der Zukunft, wenn die eigene Urteilsfähigkeit erhalten ist, umfasst aber auch häufig eine Vorausplanung für Situationen, in denen diese nicht mehr gegeben ist. Der Übergang zu Advance Care Planning (ACP) ist also fliessend. Als Dokumentation werden Behandlungs- und Betreuungspläne, bspw. auch im Sinn einer «palliativen Notfallplanung» erstellt.
  3. Die gesundheitliche Vorausplanung für den Zeitpunkt der eigenen Urteilsunfähigkeit (engl. advance care planning (ACP)) – unabhängig davon, ob diese Urteilsunfähigkeit vorübergehend oder dauerhaft ist. Im Voraus (in advance) wird das gewünschte Vorgehen überwiegend mit Blick auf den Entscheid «lebenserhaltender Maßnahmen» aber auch für spezifischere Therapien definiert. Dabei geht es wesentlich darum, den Patientenwillen in medizinisch klare Handlungsanweisungen zu übersetzen. Dokumentiert wird diese Art der Vorausplanung bspw. in Patientenverfügungen und Notfallplänen.

Eine gesundheitliche Vorausplanung – unabhängig davon, für welchen Bereich oder welche Situation sie gemacht wird – ist stets freiwillig. Das heißt, sie wird nur durchgeführt, wenn diese von der betroffenen Person auch selbst gewünscht wird (Otto, 2020).

Verschiedene Faktoren beeinflussen den Umgang mit Sterben und Tod von Personen mit Komplexen Beeinträchtigungen. Tuffrey-Wijne (2009) zeigt, dass Pflegende und Betreuende dazu tendieren, potenziell aufregende Nachrichten fernzuhalten, um ihnen Stresssituationen zu ersparen. Weitere Faktoren sind Schwierigkeiten in der Kommunikation, Hindernisse beim Ausdruck und Verständnis der Emotionen, der Wünsche, Hoffnungen und Bedürfnisse der einzelnen Person.

Auf der Suche nach dem eigenen Willen

Personenzentriertes Denken ist eine Grundhaltung, die eine Person mit dem was ihr wichtig ist, ihren Stärken und Möglichkeiten, ihren Träumen und Zielen in den Blick nimmt und darauf aufbaut. Was kann eine Person, bei alledem, was ihr vielleicht noch schwerfällt? Was interessiert sie? Welche Möglichkeiten gibt es? Welche müssen neu geschaffen werden? Dieses personenzentrierte Denken verlangt genau hinzuschauen, hinzuhören und miteinander ins Gespräch zu kommen. Es geht darum, einander genau kennenzulernen, um herauszufinden, was der Person wichtig ist und was für sie wichtig ist, damit es ihr gut geht und sie ihre Fähigkeiten entfalten kann. Ausgangspunkt dieser im deutschen Sprachraum von Doose (2020) und als «Persönliche Zukunftsplanung» bezeichneten Ansätze ist die Idee, dass von Behinderung betroffene Menschen sowie Personen, die mit ihnen das tägliche Leben teilen, die ersten sind, die beurteilen können, welche Unterstützungen eine Person braucht (O’Brien, 2002; Boban, 2007; Lindmeier, 2006).

Auf der Grundlage der Elemente der persönlichen Zukunftsplanung wurde von Adler & Wicki (2016) ein Leitfaden entwickelt, um mit Personen mit Komplexer Beeinträchtigung über ihre Wünsche am Lebensende zu sprechen, Wünsche festzustellen und diese zu dokumentieren.

Wichtig ist, Informationen für die betreffenden Personen anschlussfähig und in verständlicher Weise aufzubereiten und deren Antworten, beziehungsweise Reaktionen und Äußerungen zu dokumentieren.

Um den mutmaßlichen Willen festzustellen, werden sämtliche Äußerungen der Person einbezogen. Selbstverständlich sollten die Betreuenden, Angehörige und Beistände stets offen sein für Äußerungen der Betroffenen bezüglich Sterben und Umgang mit Sterben und Tod. Sei es, dass das Thema aufgrund eines aktuellen Todesfalles in der Verwandtschaft oder Nachbarschaft aufkommt oder einfach so angesprochen wird. Es ist hilfreich, solche Äußerungen in den Akten zu notieren. Auch ein Gesetzlicher Betreuer oder eine Beiständin können die Wünsche, Hoffnungen und Ängste mit der Person besprechen und diese aufschreiben. Unterstützend kann ein Arzt oder eine Ärztin beigezogen werden. Die zentralen Fragen, die am Anfang stehen, sind also: Wie gerne lebt die Person und welche Bedeutung hat es für die Person, noch lange weiterzuleben?

Literatur

  • Adler, J. & Wicki, M. T. (2016). Die Zukunft ist jetzt! Personenzentrierte Zukunftsplanung. Zürich: Interkantonale Hochschule für Heilpädagogik.
  • Boban, I. (2007). Moderation Persönlicher Zukunftsplanung in einem Unterstützerkreis. «You have to dance with the group!», Zeitschrift für Inklusion. 1. Verfügbar unter http://bidok.uibk.ac.at/library/boban-moderation.html
  • Bundesamt für Gesundheit (BAG) und Schweizerische Konferenz der kantonalen Gesundheitsdirektionen. (2010). Nationale Strategie Palliative Care 2010-2012. Conference of the Cantonal Ministers of Public Health. Bern: Federal Office of Public Health (FOPH) and Swiss Conference of the Cantonal Ministers of Public Health.
  • Damasio, Antonio R. (1995). Descartes‘ Irrtum: Fühlen, Denken und das menschliche Gehirn. München: Fink.
  • Ding-Greiner, C. & Kruse, A. (2009). Betreuung und Pflege geistig behinderter und chronisch psychisch kranker Menschen im Alter. Stuttgart: Kohlhammer.
  • Doose, St. (2020) «I want my dream!». Persönliche Zukunftsplanung weiter denken. Neue Perspektiven und Methoden einer personenorientierten Planung mit Menschen mit und ohne Beeinträchtigung. 11. grundlegend überarbeitete und erweiterte Neuausgabe Auflage. Neu-Ulm. AG SPAK Verlag.
  • Lindmeier, B. (2006). Soziale Netzwerke – Ihre Bedeutung für ein differenziertes Verständnis von Unterstützerkreisen in der persönlichen Zukunftsplanung. Geistige Behinderung, 45 (2), 99–111.
  • Naef, J., Hölzle-Baumann, R. & Ritzenthaler-Spielmann, D. (2012). Patientenverfügungen in der Schweiz. Basiswissen Recht, Ethik und Medizin für Fachpersonen aus dem Gesundheitswesen. Zürich: Schulthess.
  • O’Brien, J. (2002). Person-Centered Planning as a Contributing Factor in Organizational and Social Change. Research and Practice for Persons with Severe Disabilities, 27 (4), 261–64.
  • Otto-Achenbach, T. (2020). Vertreterentscheidungen – Advance Care Planning für urteilsunfähige Menschen. In: T. Krones & M. Obrist (Hrsg.). Wie ich behandelt werden will. Advance Care Planning (S. 156-182). Zürich: rüffer & rub.
  • Trachsel, M., Hermann, H. & Biller-Andorno, N. (2014). Urteilsfähigkeit. Ethische Relevanz, konzeptuelle Herausforderung und ärztliche Beurteilung. Schweiz Med Forum, 14 (11), 221–225. Zugriff am 24.02.2016. Verfügbar unter http://www.ibme.uzh.ch/dam/jcr:ffffffff-ea6d-875d-0000-000071a7d347/Urteilsfaehigkeit.pdf
  • Tuffrey-Wijne, I., Whelton, R., Curfs, L. & Hollins, S. (2008). Palliative care provision for people with intellectual disabilities: A questionnaire survey of specialist palliative care professionals. PALLIATIVE MEDICINE, 22 (3), 281–290.
  • Wicki, M. T. (2019). Lebensende in Wohneinrichtungen für Erwachsene mit Behinderung. Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik 26 (9), 26-35.
  • Wicki, M. T. (2020) Soziale Netzwerke von älteren Personen mit Behinderung in Wohneinrichtungen. Zeitschrift für Heilpädagogik, 8, 393-399.
  • Wicki, M. T. (2021). Begleitung von Menschen mit Behinderung am Lebensende und aktuelle Herausforderungen für die Weiterentwicklung der Versorgungsstrukturen. Menschen. Zeitschrift für gemeinsames Leben, Arbeiten und Lernen. 44(1), 59-64.

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