9 Assistenz zur sexuellen Selbstbestimmung

Emily Goodall

Einleitung

Laut Amnesty International (2014) hat jeder Mensch weltweit das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung. Dieses sexuelle Menschenrecht bezieht sich dabei laut Döring (2019) sowohl auf die freiheits- als auch die schutzbezogenen Rechte ei-nes jeden Menschen. Die sexuelle Selbstbestimmung ist hierbei sehr vielfältig und breit gefächert. So beinhaltet sie beispielsweise Entscheidungen für oder gegen unterschiedliche Arten des sexuellen (Er-) Lebens, die von dem jeweiligen Individuum in bewusster oder unbewusster Weise selbst getroffen werden (vgl. Ortland, 2016, S.14). Im Rahmen dessen kann sich beispielsweise für Sexualität in der Partnerschaft aber auch dagegen entschieden werden (vgl. ebd.). Der Slogan von Amnesty International (2014) scheint hier passend: «My body, my rights» (deutsch: «Mein Körper, meine Rechte»). Es geht also darum, unabhängig über den eigenen Körper entscheiden zu können, die eigene sexuelle Identität zu entdecken und individuell auszuleben sowie selbst über damit zusammenhängende Themen, wie zum Beispiel Fortpflanzung und Heirat, entscheiden zu können (vgl. ebd.). Dabei muss das Wissen um die eigene Sexualität und den damit verbundenen Bedürfnissen über Erfahrungen erlernt werden (vgl. Ortland, 2016, S.15).

Für Menschen mit Behinderung gestaltet sich die vollumfängliche sexuelle Selbst-bestimmung und das Erleben von Sexualität jedoch oftmals schwieriger. Insbesondere die unterschiedlichen und besonderen Lebensbedingungen von Menschen mit Behinderung erschweren häufig die sexuelle Selbstbestimmung oder verhindern sie gar ganz (vgl. Ortland, 2016, S.13). Um ihre Sexualität ausleben zu können, benötigen Menschen mit Behinderung daher häufig von außen kommen-de Unterstützungsmaßnahmen, die von anderen Personen geleistet werden müssen. Oft ist es Menschen mit Behinderung nur so möglich, sexuelle Selbstbestimmung zu erleben und ihren Bedürfnissen im sexuellen Bereich nachzukommen (vgl. Ortland, 2016, S.15). In den folgenden Kapiteln soll daher diese Begleitung näher betrachtet werden und im Zuge dessen auch auf Herausforderungen und Besonderheiten in Bezug auf die Assistenz zur sexuellen Selbstbestimmung ein-gegangen werden. Abschließend erfolgt ein kurzes Fazit.

Formen der Assistenz und Herausforderungen

Im Rahmen der Assistenz zur sexuellen Selbstbestimmung sind auf Seiten der Begleitenden verschiedene Bedingungen von Bedeutung (vgl. Ortland, 2016, S. 13). Zunächst bedarf es der Offenheit sich auf das Thema der Sexualität im Leben des Gegenübers unvoreingenommen einzulassen (vgl. ebd.). Darüber hinaus wird ein hohes Maß an Wissen über die generelle sexuelle Entwicklung eines Menschen benötigt. Zudem ist es wichtig, dass Fachwissen über die entsprechende Behinderung vorliegt: Nur so kann eingeschätzt werden, inwiefern sich das sexuelle Erleben und Ausleben dadurch verändern könnte, beziehungsweise verändern wird (vgl. Ortland, 2016, S.13).

Außerdem können unterschiedliche Formen der Assistenz zur sexuellen Selbstbestimmung herausgearbeitet werden, die im Folgenden bündig dargestellt werden sollen.

Der erste Bereich umfasst die Assistenz durch die Mitarbeitenden des allgemeinen Hilfesystems, die im Alltag mit Menschen mit Behinderung arbeiten. Sie sollten in dem Schwerpunkt der sexuellen Selbstbestimmung von erwachsenen Menschen mit Behinderung geschult und qualifiziert sein, um als Ansprechpartner:innen zu fungieren und Wissen zu vermitteln (vgl. Ortland, 2016, S.154). Außerdem sollten sie über das bereits angesprochene Allgemeinwissen über Sexualität und sexuelle Selbstbestimmung sowie über behinderungsspezifisches Wissen verfügen. Die Mitarbeitenden sollten ihr Wissen für das Gegenüber nachvollziehbar (z.B. in Leichter Sprache) vermitteln und dies gegebenenfalls auch mit etwaigen Materialien (zum Beispiel Bildern) unterstützen können (vgl. Ortland, 2016, S.192). Auch für Fragen seitens der Menschen mit Behinderung sollten die Mitarbeitenden zur Verfügung stehen (vgl. ebd.). Darüber hinaus kann es für Menschen mit Behinderung, die in (komplexen) Wohneinrichtungen wohnen, sehr herausfordernd bis unmöglich sein, Personen (ohne Behinderung) außerhalb dieser Einrichtung kennenzulernen. Die Mitarbeitenden des Hilfesystems sollten daher Menschen mit Behinderung auch dahingehend unterstützen, Menschen ohne Behinderung in anderen Zusammenhängen zu begegnen (vgl. Ortland, 2016, S.155). Dies könnte beispielsweise in Form eines Freizeitangebotes geschehen, das außerhalb der Einrichtung stattfindet.

Die zweite Form bezieht sich auf die Assistenz im Sinne von spezifischen Einrichtungen, die sich explizit mit den Themen Sexualität und sexuelle Selbstbestimmung befassen. Diese Assistenzleistung könnte zum Beispiel in einer Beratungs-stelle stattfinden. Das Lehr- und Beratungsinstitut für die Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderung in Trebel bietet beispielsweise Sexualberatung an (vgl. Institut zur Selbst-Bestimmung Behinderter, o.J.).

Die dritte Form der Assistenz bezieht sich auf das Themenfeld der konkreten Sexualassistenz. Hierbei lassen sich laut Böhr (2020, S.27.) zwei Arten, die passive und die aktive Sexualassistenz, unterscheiden. Die passive Sexualassistenz be-zieht sich dabei vor allem auf das Erschaffen von Bedingungen, die ein umfassen-des Befriedigen der Bedürfnisse im sexuellen Bereich gewährleisten. Dies umfasst neben der bereits angesprochenen Wissensvermittlung auch konkrete praktische Übungen, wie etwa des selbstständigen Erwerbs von Kondomen und der Übung der Verwendung eines Kondoms an einem Penis aus Holz (vgl. Ortland, 2016, S.192). Bei der aktiven Sexualassistenz ist die unterstützende Person hingegen «aktiv in die Sexualhandlung» (Böhr, 2020, S.27) mit einem Menschen mit Behinderung einbezogen. Die Unterscheidung beider Formen ist hierbei von besonderer Wichtigkeit: Während die passive Sexualassistenz von geschulten Mitarbeitenden des Hilfesystems angeboten und durchgeführt werden kann, sollte die aktive Sexualassistenz immer von einer externen Fachkraft geleistet werden (vgl. Böhr, 2020, S.28). Das Lehr- und Beratungsinstitut zur Selbstbestimmung für Menschen mit Behinderung in Trebel bietet in diesem Zusammenhang beispielsweise eine Sexualbegleitung an, bei der es sich um die aktive Sexualassistenz handelt (vgl. Institut zur Selbst-Bestimmung Behinderter, o.J.).

Unabhängig der Form kann die personenzentrierte Planung in diesem Zusammenhang als bedeutsam erachtet werden. Die gemeinnützige GmbH W.I.R aus Österreich berichtet, dass Unterstützung individuell geplant und vorbereitet werden muss, um den Menschen mit Behinderung dabei zu unterstützen, seine Zukunft nach eigenen Wünschen und Vorstellungen zu erschaffen. Dabei sollen auch Ressourcen aus dem sozialen Umfeld genutzt werden (vgl. W.I.R gemeinnützige GmbH, o.J.). Dies lässt sich auch auf den Bereich der sexuellen Selbstbestimmung übertragen: Nicht jede Form der Assistenz und Herangehensweise ist für jeden Menschen mit Behinderung gleichermaßen geeignet. Vielmehr gilt es seitens der Begleitenden (zusammen mit dem Menschen mit Behinderung) die individuell notwendige und passende Unterstützungsform zu identifizieren. Im An-schluss kann sie konkret geplant vorbereitet und letztendlich durchgeführt, beziehungsweise beauftragt werden. Dabei gilt es stets die individuellen Möglichkeiten und Bedürfnisse der jeweiligen Person in den Mittelpunkt zu stellen und die gesamte Planung konkret danach auszurichten. Für die Realisierung können bereits vorhandene soziale Ressourcen sowohl innerhalb als auch außerhalb des Hilfe-systems sehr hilfreich sein.

Die Herausforderungen, die Menschen mit Behinderung bei der Erlangung der sexuellen Selbstbestimmung begegnen können, sind durch unterschiedliche Komponenten geprägt. Exemplarisch sollen an dieser Stelle zwei Aspekte bündig skizziert werden.

Wie bereits im ersten Kapitel angedeutet, stellt die Beeinträchtigung der betroffenen Person eine Herausforderung bei der Verwirklichung der umfassenden sexuellen Selbstbestimmung dar. Etwaige Einschränkungen in der Mobilität oder Kommunikation können dazu führen, dass beispielsweise Verabredungen mit an-deren Menschen erschwert sind und/oder die Aufnahme und die Gestaltung einer Konversation/eines Kontaktes Hürden mit sich bringt (vgl. Ortland, 2016, S.17). Zudem kann es für Menschen mit einer kognitiven Beeinträchtigung sehr heraus-fordernd sein, sich überhaupt Wissen im Bereich der Sexualität anzueignen, da viele Materialien nicht barrierefrei aufbereitet sind und dementsprechend nicht oder nur sehr schwer verstanden werden können (vgl. Ortland, 2016, S.192).

Darüber hinaus können im Rahmen der Assistenz zur sexuellen Selbstbestimmung auch durch die Mitarbeitenden des Hilfesystems Herausforderungen entstehen, wenn diese nicht ausreichend in dem Themenfeld qualifiziert sind. Laut Ort-land (2016, S.18) wird das sexuelle Verhalten von Menschen mit Behinderung von Mitarbeitenden etwa häufig ablehnend bewertet. Auch ein Mangel an eigener Re-flexion und der Kompetenz über die Sexualität betreffende Themen in adäquater Weise zu sprechen, können hier eine Rolle spielen (vgl. Ortland, 2016, S.18f.). Zudem sind langfristig angelegte sexualpädagogische Angebote nur selten gegeben (vgl. Ortland, 2016, S.19).

Personelle und strukturelle Anforderungen

Zu Beginn lässt sich festhalten, dass Themen rund um die sexuelle Selbstbestimmung viel Feinfühligkeit und Offenheit erforderlich machen. Zwischen einem Menschen mit Behinderung und der assistierenden Person sollte daher ein möglichst offenes, vertrauensvolles Gespräch geführt werden können (vgl. Ortland, 2016, S.16). Damit assistierende Personen in der Lage sind, die unterschiedlichen und individuellen Bedürfnisse des Menschen mit Behinderung zu erkennen und darauf abgestimmt zu handeln, bedarf es eines breiten Wissensspektrums – vor allem in den Bereichen Sexualität und Behinderung. So kann gewährleistet werden, dass die assistierende Person den Menschen mit Behinderung adäquat beraten und begleiten kann (vgl. Ortland, 2016, S.154).

In einem (interdisziplinären) Team von Mitarbeitenden ist zudem der Austausch von enormer Bedeutung, um sich dahingehend abzustimmen, wie Themen der Sexualität behandelt werden sollen (vgl. Ortland, 2016, S.192). Ein transparenter Informationsfluss und stetige Absprachen im Team sind unabdingbar (vgl. ebd.). Dies ist nicht zuletzt auch für den Schutz der Mitarbeitenden relevant, um Vorwürfen bezüglich grenzüberschreitenden Verhaltens entgegenzuwirken (vgl. ebd.).

Insgesamt lässt sich sagen, dass assistierende Personen eine reflektierte und offene Haltung annehmen sollten und ihr professionelles Handeln – unabhängig von der Form der geleisteten Assistenz zur sexuellen Selbstbestimmung – kontinuierlich kritisch hinterfragen sollten.

Fazit und Ausblick

Es kann festgehalten werden, dass die sexuelle Selbstbestimmung – unabhängig davon, ob eine Beeinträchtigung vorliegt oder nicht – ein Menschenrecht ist. Menschen mit Behinderungen können die gleichen sexuellen Bedürfnisse wie Menschen ohne Behinderung haben. In dem Erleben und Ausleben ihrer Sexualität kann es allerdings bestimmte Besonderheiten geben, die mitgedacht und beachtet werden müssen. Da das Thema Sexualität sowie sexuelle Selbstbestimmung und Behinderung jedoch häufig auf Tabuisierung stößt, sind die aktuellen Möglichkeiten und Angebote noch sehr eingeschränkt. Umso wichtiger ist es daher, über die sexuelle Selbstbestimmung in Bezug auf Menschen mit Behinderung zu informieren und sich, gerade als assistierende Person, diese Informationen anzueignen. Ein gutes Allgemeinwissen zum Thema Sexualität sowie auf Behinderung zugeschnittenes Wissen sind hier von enormer Bedeutung. Zudem ist eine offene, reflexive Haltung von allen Mitarbeitenden in dem Hilfesystem für Menschen mit Behinderung sowie potenziellen Begleitenden unabdingbar, um die bestmögliche Erlangung der individuellen sexuellen Selbstbestimmung des jeweiligen Menschen zu erreichen.

Literatur

Lizenz

Icon für Creative Commons Namensnennung-Nicht kommerziell-Keine Bearbeitung 4.0 International

Einführung in die Assistenz Copyright © 2021 by Emily Goodall is licensed under a Creative Commons Namensnennung-Nicht kommerziell-Keine Bearbeitung 4.0 International, except where otherwise noted.