11 Erfahrungsbericht durch den Austausch mit einem Mitarbeitenden/ Palliativbeauftragten

Alexander Hellmuth

Ich arbeite in einer diakonischen Stiftung, die zahlreiche Einrichtungen unterhält. In dieser Stiftung gibt es verschiedene Bereiche. Ich bin im Bereich ‚Wohnen und Assistenz‘ tätig und bin Betreuender von acht Menschen mit Komplexen Beeinträchtigungsformen. Diese Klient:innenleben in einer stationären Wohngruppe, welche gleichermaßen das Zuhause dieser Menschen ist. Geistige Beeinträchtigungsformen sind Grundvoraussetzung für die Aufnahme im stationären Wohnen unserer Einrichtung. Auf mehreren Wohngruppen leben Menschen mit geistigen Beeinträchtigungen, die leichter oder schwerer ausgeprägt sein können. Es gibt Menschen, die ihre Wünsche und Bedürfnisse offen äußern können, aber auch Menschen, die gar nicht in der Lage sind, diese Wünsche und Bedürfnisse verbal zu kommunizieren. Daher unterliegt die alltägliche pädagogische Arbeit einem sehr breiten Spektrum in Bezug auf den jeweiligen Assistenzbedarf. Die Arbeit in der Wohngruppe, in der ich arbeite, ist von einem sehr hohen Assistenzbedarf geprägt. Die Menschen, die dort leben, haben meist schwerwiegende geistige Beeinträchtigung in Kombination mit schweren körperlichen Beeinträchtigungsformen. Es ist demnach eine große Herausforderung, die Bedürfnisse und Wünsche der einzelnen Menschen zu erkennen und im Interesse der Klient:Innen zu befriedigen und ihnen in dieser Hinsicht bei der Bewältigung des Alltags in den verschiedensten Formen zu assistieren. Menschen, die zu uns in die Wohngruppe ziehen, kommen häufig aus selbstbestimmteren Wohnformen, bei denen ein geringer Assistenzbedarf besteht.

Aufgrund sich ändernder Lebenssituationen oder Krankheiten, die einen erhöhten Assistenzbedarf dieser Menschen zur Folge haben, werden sie bei uns betreut. Häufig ist es so, dass diese Menschen dann ihr weiteres Leben bei uns in der Wohngruppe verbringen. Der Umgang und die Arbeit mit dem Tod und mit der Sterbebegleitung haben daher einen hohen Stellenwert, da oft auch ein Zeitraum absehbar ist, in dem diese Menschen versterben werden.

Die Stiftung hat es sich in den letzten Jahren zur Aufgabe gemacht, sich in diesem Bereich neu aufzustellen und personelle und finanzielle Ressourcen zu schaffen. Das Thema Sterbebegleitung soll ein zentraler Pfeiler der pädagogischen Arbeit mit den Menschen, die bei uns leben, sein.

Die Stiftung setzt sich als oberstes Leitziel, dass jeder Mensch, der in einer Wohnform bei uns lebt, das Recht haben soll, zu Hause zu sterben.

Seit ca. 3 ½ Jahren bietet der Träger Mitarbeitenden an, sich nach dem Ansatz von Palliativ Care ausbilden zu lassen. Hierzu war es vorgesehen, dass jeweils ein Mitarbeitender pro Einrichtung der Stiftung geschult wird. Deshalb besuchten zunächst etwa 25 Mitarbeitende ein solches Seminar, welches sich über 5 Wochen erstreckte. Fachlich erworbene Kompetenzen dieser Mitarbeitenden wurden dann durch diese in die einzelnen Einrichtungen getragen. Da die Ansätze und Umsetzungen doch recht verschiedenartig angegangen wurden, wurde fortan einmal pro Quartal ein großer Qualitätszirkel einberufen. In diesem Qualitätszirkel sollten die geschulten Mitarbeitenden von ihren Erfahrungen aus den einzelnen Einrichtungen in Bezug auf die umgesetzte Sterbebegleitungen berichten und sich austauschen. Dies geschieht, um wachsende Qualitätsstandards in Bezug auf die Sterbebegleitung und die Assistenz am Lebensende zu etablieren.

In weiteren Schritten wurde herausgearbeitet, dass es pro Einrichtung eine Person geben muss, die seelsorgerisch tätig und hauspalliativ betreuend wirkt. Hierzu wurden Informationsveranstaltungen für die einzelnen Mitarbeitenden durch die zwei Palliativ Care Beauftragten unserer Einrichtung durchgeführt.

Wie arbeiten die palliativ Beauftragten unserer Einrichtung

Das geschulte Personal führt fachliche Informationsveranstaltungen für Mitarbeitende durch. Im Falle einer anstehenden Sterbebegleitung werden fachlich und pädagogisch notwendige und hilfreiche Informationen an die Mitarbeitenden getragen. Diese Palliativ Beauftragten haben eine anleitende und aktiv unterstützende Funktion beim Prozess der Sterbebegleitung. Sofern dies gewünscht wird, treten sie in diesem Zusammenhang mit den gesetzlichen Betreuer:innen in Kontakt, um Betroffene und Mitarbeitende der Wohngruppen bestmöglich zu begleiten. Arzttermine werden, wenn es dem Wunsch entspricht, ebenfalls durch die Beauftragten begleitet. Die Beauftragten stellen die Kontakte zu ortsansässigen ambulanten Hospizdiensten her, welche im Idealfall ebenfalls den Prozess am Lebensende der einzelnen Bewohner:innen mitbegleiteten.

Ebenso wurde die Möglichkeit geschaffen, eine «spezialisierte-ambulante-palliative-Versorgung» (sapV) in besonders schweren Fällen zu konsultieren und hinzuzuziehen. Die Versorgung wird notwendig, wenn die Betroffenen besondere pflegerische Begleitung benötigen. Das oberste Ziel ist es, eine angemessene Schmerzmittelversorgung sicherzustellen, damit die Betroffenen kein erhöhtes Leiden verspüren müssen. Daher wurde sich im Zuge dieses wandelnden Prozesses auch darauf geeinigt, dass auch pädagogisches Fachpersonal (welches in der Regel nur pflegerische Assistenz mit nicht pflegerischer Fachkenntnis leistet) auch subkutane Injektionen in besonderen Situationen verabreichen darf, um eine angemessene Schmerzmittelversorgung durch die Betreuenden der Wohngruppe zu gewährleisten.

Derzeitige Möglichkeiten der Sterbebegleitung und prozesshafte Neuerungen die bereits angefangen haben

Verfügungen/ Patientenverfügungen

Gegenwärtig dreht sich das Gros der palliativen Arbeit noch um die Möglichkeit der Patientenverfügung in unserer Einrichtung, wenn gleich bereits neue Wege und Schritte parallel erprobt werden, um zeitnah qualitativ angemessen Umsetzung zu finden. Sofern die Betroffenen aussagefähig sind, werden sie selbstverständlich aktiv in den Prozess miteinbezogen. Ansonsten kommt es auf die Erfahrungen der Akteure aus dem sozialen Umfeld der Betroffenen an, um eine bedürfnisorientierte Verfügung in diesem Bereich zu verfassen. Gemeinsam mit der gesetzlichen Betreuung, den Betreuenden aus dem Wohnumfeld, dem Hausarzt, den Seelsorger:innen, dem Psychologen, dem bei uns auf dem Gelände ansässigen sozialen Dienst und möglichen weiteren Angehörigen können Patientenverfügungen oder auch palliative Notfallbögen erstellt werden. Hierbei werden verschiedene Angelegenheiten rechtlich geregelt. Zum Beispiel wird dort erwähnt, welche Medikamente unter welchen Voraussetzungen verabreicht werden können, bei welchen Symptomen welche Medikamente empfohlen werden und bei welchen Symptomen der Betroffene nicht mehr ins Krankenhaus eingeliefert werden muss.

Hierbei soll nach dem obersten Leitziel geregelt werden, dass die jeweiligen palliativ zu Betreuenden in ihrem Wohnumfeld versterben können, ohne dass sie dabei Qualen erleiden müssen.

Fallkonferenzen

Eine weitere Möglichkeit befindet sich aktuell in der Erprobungsphase und wird demnächst auch zu einem festen Bestandteil unserer palliativen Arbeit werden. Diese Möglichkeit wird durch die Einrichtung als Fallkonferenz in einem 7-Schritte Dialog bezeichnet. Hierbei werden ethische Fragstellungen im Dialog erarbeitet, um in sieben Schritten zu einer bedürfnisorientierten Entscheidung zu kommen.

Falls Klient:innen wegen der Schwere ihrer Beeinträchtigungen nicht das Bedürfnis haben, über ihre Wünsche im anstehenden palliativen Prozess zu sprechen, wird dieser Prozess durchlaufen. Der Rahmen soll einen ganzheitlichen Blick auf die Wünsche und Bedürfnisse der einzelnen Klient:innen richten, um diese möglichst nahe an den Bedürfnissen, in Bezug auf eine anstehende und durchzuführende Assistenz am Lebensende, umzusetzen. Das heißt, dass in naher Zukunft jeder betroffenen Person, die in eine Sterbebegleitung kommt, dieser Prozess zu Teil wird. In den Fallkonferenzen steht der einzelne Mensch im Fokus. Alle Menschen, die im Sozialgefüge der jeweiligen Person angebunden sind, oder angebunden waren, zu denen aber noch Zugang besteht, sollen an den Konferenzen teilnehmen. Die Konferenzen werden durch gezielt dafür ausgebildete Moderator:innen geleitet.

Die ethische Fallbesprechung beginnt mit einer Begrüßung; dem Grund für die Besprechung; kurze Vorstellung aller anwesenden Personen und in welchen Beziehungen sie zu der jeweiligen Person, die palliativ begleitet werden soll, stehen.

Schritt 1: Beschreibung der jeweiligen Klient:innen

gemeinsames Sammeln und Sortieren von Informationen nach den Aspekten: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Betroffenen; der/die Moderator:in achtet darauf, dass Interpretationen nicht Bestandteil dieses Schrittes sind. Folgende Fragstellungen können eine strukturierte Sammlung der Informationen ermöglichen: Informationen zur Biografie; Medizinischer-pflegerischer Sachverhalt; Ich-Du-Beziehungen; Fachwissen und Lebenserfahrung der Teilnehmenden; weitere Fragen über den Sachverhalt.

Schritt 2: Was ist unser ethischer Konflikt?

Dieser Schritt beinhaltet den Fokus auf die ethischen Grundprinzipien Fürsorge in Verhältnis zu Autonomie: etwas Gutes zu bewirken; den jeweiligen Klient:innen nicht zu schaden; Gerechtigkeit; Im Anschluss wird das Problem benannt.

Schritt 3: Sammlung von Handlungsmöglichkeiten

Benennung von Handlungsmöglichkeiten durch die einzelnen Teilnehmenden; Ideen werden auf Moderationskarten geschrieben; mind. drei Ideen pro Teilnehmer:in, auch wenn die Handlungsmöglichkeiten erst einmal unrealistisch erscheinen.

Schritt 4: Zuordnung zu den ethischen Grundprinzipien

Vor- und Nachteile der Handlungsmöglichkeiten werden betrachtet und den ethischen Grundprinzipien zugeordnet; Optionen, die unrealistisch oder rechtlich nicht erlaubt sind, werden bei diesem Prozess herausgefiltert.

Schritt 5: Zuordnung der Handlungsmöglichkeiten zu den jeweiligen Grundprinzipien sowie die Einbettung der Kategorien Selbst- und Fremdbestimmung.

Die Selbstbestimmung spielt der Fremdbestimmung gegenüber immer die gewichtigere Rolle, um eine spätere Abfolge der jeweiligen Handlungsmöglichkeiten zu erstellen.

Schritt 6: Eine Entscheidung treffen

Aufgeschriebene Optionen werden nummeriert und in eine Reihenfolge gebracht. Die Option mit der geringsten Einschränkung in der Autonomie erhält normalerweise die Nummer 1. In der Regel liegen in der Mitte die Maßnahmen, die die Wünsche der Klient:innen am wenigstens verletzen, solange der Wille nicht zu klären ist oder geklärt werden konnte. Handlungsoptionen können nochmals wiederholt werden. Am Ende dieses Schrittes soll ein einheitlicher Konsens stehen.

Schritt 7: Die Entscheidung wird umgesetzt

Die Entscheidung wird durch das Fachpersonal umgesetzt und dennoch stetig in der Anwendung reflektiert und überprüft. Es gibt in gewissen Abständen Reflektionen in gesonderten Konferenzen.

Spezialisierte Sterbevorsorge

Ein zusätzlicher neuer Baustein der palliativen Arbeit wird eine spezialisierte Sterbevorsorge sein. Hierfür wird zeitnah einer der Mitarbeitenden der Einrichtung eine spezielle Ausbildung ablegen. Ziel der Ausbildung ist der Erwerb von Fachkompetenzen im Bereich der Klient:innen – bezogenen Sterbevorsorge. Die geschulten Mitarbeitenden sollen demnach gemeinsam mit den Klient:innen, die dies wünschen, Sterbevorsorgepapiere ausfüllen. Die Materialien werden ebenfalls in Einfacher Sprache verfasst, um Klient:innen mit verschiedenen kognitiven Voraussetzungen einen möglichst barrierefreien Zugang zu dieser Möglichkeit zu gewähren. Die Arbeitszeit für diesen Prozess wird höchstwahrscheinlich von den Krankenkassen übernommen, um so den jeweiligen Einrichtungen auch finanziell entgegenzukommen.

Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass sich in dem Bereich Assistenz am Lebensende, in unserer Einrichtung viel getan hat. Der Prozess, palliative Arbeit zu leisten, wird stetig weiterentwickelt, um so den Wünschen und Bedürfnissen der einzelnen Klient:innen nach und nach gerechter werden zu können.

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