Teil 2: Erweiterung der Fachbereiche

2.3. Personalisierung

Definition

«Personalisierung» bedeutet die Ausrichtung des Kompetenzaufbaus auf das übergeordnete Bildungsziel der Befähigung (vgl. Bildungsziele: Anregung zur Vertiefung im Teil 1 sowie Teil 3). Dabei steht die Person im Zentrum, die Entwicklung der Persönlichkeit, ihre Bereitschaften, Haltungen und Werte. Es geht darum, die Schülerin oder den Schüler auf dem Weg hin zu einer selbstbestimmten, verantwortungsvollen Lebensführung zu begleiten.

Die Schulische Heilpädagogin oder der Schulische Heilpädagoge hat hier die Aufgabe, sozusagen «durch die Behinderung hindurchzusehen» und die Schülerin oder den Schüler als sich entwickelnde Persönlichkeit wahrzunehmen. Im Fokus stehen dabei die Bildungsziele des Lehrplans 21 (vgl. Teil 1). Mittelfristige Ziele (z.B. im SSG) und kurzfristige Ziele (z.B. Lernziele einer Unterrichts- oder Therapiesequenz) sind diesen langfristigen Zielen untergeordnet.

In der Broschüre finden Sie Hinweise zur Bedeutung der Fachbereiche und Module für die «Personalisierung» (vgl. DVK 2019, S.18-26).

Möglichkeiten der «Personalisierung»

Interessen und Ressourcen des Kindes für Kompetenzaufbau nutzen

Interesse für das Erlernen einer bestimmten Kompetenz kann über das dazu verwendete Objekt, die damit verbundene Tätigkeit, das gewählte Thema oder über die Lernumgebung geweckt werden. Interesse an Essen wird genutzt, um die Motivation aufrecht zu erhalten beim Lesen eines Sachtextes und Bewältigen eines mehrschrittigen Ablaufs zwecks Herstellens einer Schokoladencrème. Ebenso können vorhandene emotionale, soziale, motivationale, motorische oder kognitive Ressourcen genutzt werden, um einen personalisierten Zugang zum Kompetenzaufbau zu finden. Aufmerksamkeit für Details und das Erkennen von Mustern eines Kindes mit Autismus sind wichtige Ressourcen beim Erkunden von Instrumenten, Klangquellen und elektronischen Medien, wenn die Aufgabenstellung und die Lernumgebung diese Ressourcen einbinden.


Erleben von Selbstwirksamkeit ermöglichen

Die aktive Auseinandersetzung mit der sozialen und materiellen Welt ist ein Grundbedürfnis aller Menschen, dabei ist es wichtig sich als kompetent, als autonom und als sozial eingebunden zu erleben. Lerngelegenheiten sollten so gestaltet sein, dass der Schüler oder die Schülerin in Gemeinschaft mit Anderen Handlungen möglichst autonom durchführen kann und dabei ein positives Ergebnis erreicht.


Respektieren von Freiheiten

Kinder mit Behinderungen sind in einem hohen Masse abhängig von den Interventionen von Erwachsenen, deshalb ist es umso wichtiger, Freiräume für Entscheidungen zu schaffen, die Meinung der Schülerinnen und Schüler zu respektieren, Wahlmöglichkeiten zu geben und ihnen die Freiheit zuzugestehen, die eigene Kultur und Identität zu leben sowie ihre grundlegenden Bedürfnisse zu befriedigen. Dabei gilt es zu respektieren, dass Kinder sich auf verschiedene Art und Weise an Lernprozessen beteiligen und bei selbstgesteuerten Tätigkeiten auch scheitern können. Freiheiten gewähren heisst auch, dass das Kind sich auch einmal schmutzig machen oder das Gesicht statt das Blatt bemalen kann  – wobei für eine grundsätzliche Sicherheit gesorgt werden muss.

Anregung zur Vertiefung
(Zeitaufwand  < 5 Minuten)

Personalisierungsmöglichkeiten: Beispiele entwickeln

Lesen Sie in der Broschüre auf S. 31 nach, welche Personalisierungsmöglichkeiten es gibt!

Dieser knapp zehnminütige Ausschnitt aus dem Film «The Interviewer» (hier hinterlegt finden Sie die ungekürzte Version) illustriert, wie Verwirklichungschancen verwehrt oder eröffnet werden. Möglichkeitsräume erweitern bedeutet auch, unsere Erwartungen zu hinterfragen und echte Gelegenheiten zu schaffen, um Talente und Potenziale zu entwickeln. 




Was ist wichtig beim Personalisieren?

Personalisierung erfordert eine vorurteilslose, offene Wahrnehmung des Gegenübers und eine Aufmerksamkeit für noch so kleine Hinweise auf Eigenaktivitäten, Interessen, Bereitschaften und Initiative. Dabei geht es nicht nur um die Feststellung von Ressourcen der Schülerin oder des Schülers, sondern um deren gezielte Förderung sowie deren aktive Nutzung für den Kompetenzerwerb in allen Fachbereichen.

Selbstregulation und Selbststeuerung fördern

Bei Alltagshandlungen und im Unterricht ergeben sich zahlreiche Gelegenheiten, um Exekutivfunktionen und Selbstregulierung der Schülerin oder des Schülers zu unterstützen und zu fördern. Dazu gehört die Fähigkeit, ablenkenden Handlungsimpulsen zu widerstehen, störende Reize auszublenden und sich des eigentlichen Handlungsziels gewahr zu werden. Dabei ist die Unterstützung des Arbeitsgedächtnisses von grosser Bedeutung. Damit Schülerinnen und Schüler lernen können, ihr eigenes Handeln an die jeweilige Situation anzupassen, müssen sie die Möglichkeit erhalten, sich als Urheber von Handlungen und Ergebnissen zu erfahren, auch wenn sie dabei erst einmal scheitern. Entscheidungen treffen zu dürfen, ohne Anleitung zu explorieren und dabei auch Fehler machen zu dürfen, sind wichtige Grunderfahrungen für das Entwickeln von Selbststeuerung und Selbstwirksamkeit.

Beispiele zur Personalisierung (Selbstregulation und Selbststeuerung)
(Zeitaufwand < 5 Minuten)

Verschiedene Beispiele (Zeitaufwand < 5 Minuten) – hier klicken
  • Gil: Im Videoausschnitt wird gut sichtbar, wie die Schulische Heilpädagogin in einer «Garderobensituation» zahlreiche Gelegenheiten schafft, um die Selbstregulierung und  -steuerung des Schülers zu unterstützen. Unterstützt und im dialogischen Austausch mit der Heilpädagogin zieht sich der Schüler für das Schwimmen um.




  • Chris: Jeden Tag 1% besser werden hilft Chris Nikic sich selber regulieren zu können, dabei erfährt er Unterstützung von seinem «Team».

Informationsquellen zu Selbstregulation und Selbststeuerung:

  • Beobachtungen zu Selbständigkeit, Ausdauer und Flexibilität im Umgang mit Herausforderungen sowie zur Anwendung von Selbstregulationsstrategien
  • Personale Kompetenzen, insbesondere Selbständigkeit und Eigenständigkeit

Subjektiv bedeutsame Fähigkeiten fördern

Jedes Kind hat das Recht, seine Talente zu entwickeln, seinen Interessen nachzugehen und Ziele zu erreichen, die von subjektiver Bedeutsamkeit sind. Es geht darum, bedeutsame Lerngelegenheiten zu schaffen und die Schülerin oder den Schüler auf beim Ausführen selbstinitiierter Aktivitäten zu unterstützen. Ziele und Aktivitäten sollten mit den Eltern oder Erziehungsberechtigten gemeinsam identifiziert und unterstützt werden, da sich vor allem auch im ausserschulischen Bereich hierzu wichtige Lernanlässe gestalten lassen.

Beispiele zur Personalisierung (subjektiv bedeutsame Fähigkeiten)

Verschiedene Beispiele  – hier klicken

 

Angeleitet eine Schoggicrème herstellen: Nils liebt Dessert und freut sich, wenn er etwas produzieren und nach Hause bringen kann (NMG 1.3).

  • Künstlerin sein – Bilder ausstellen: Lola zeichnet mit Ausdauer in jeder freien Minute sehr detailgetreu Abbildungen von Tieren aus ihrer Lebenswelt. (BG 2.A.1)
  • Betreiben eines Pausenkiosks: Mauro sieht sich bereits jetzt als Unternehmer und ist interessiert am Verkauf und Handel. Er will mit praktischen Umsetzung herausfinden, wie ihm das gelingt. (BO.1.1/ BO.4.2)
  • Mit Primzahlen kommunizieren: Autistische Zwillinge sind begeistert von Primzahlen, die sie zur Kommunikation untereinander verwenden (Zahlenfolgen weiterführen (MA.1.B.1.b ) (Kapitel 23 in „Der Mann der seine Frau mit einem Hut verwechselte“ (Oliver Sacks, Englische Erstausgabe 1970).

Informationsquellen zu subjektiv bedeutsamen Fähigkeiten:

  • Beobachtungen von Eltern, Peers und anderen Bezugspersonen
  • Nutzen von subjektiv bedeutsamen Themen, Gegenständen, Aktivitäten für den Kompetenzaufbau

Subjektiv bedeutsame Situationen schaffen

Personalisieren heisst nicht nur proaktiv die Selbstregulation stärken und wertvolle Aktivitäten ermöglichen, sondern auch Situationen anbahnen, in denen der Schüler oder die Schülerin sich selber wirksam erlebt und die eigene Persönlichkeit, die eigenen Ressourcen und bedeutsamen Aktivitäten erfahren kann. Das bedeutet auch, schwierige Situationen, Traurigkeit oder Hilflosigkeit auszuhalten und dabei eine echte, einfühlsame und ehrliche Interaktionspartnerin oder ein echter, einfühlsamer und ehrlicher Interaktionspartner zu sein. Narrative Zugänge und das zum Ausdruck bringen von Gefühlen und Erfahrungen – auch die Erfahrung des Behindert-Seins – können helfen, sich selber zu erfahren und sich selber als handelndes und fühlendes Individuum wahrzunehmen.

Beispiele zur Personalisierung (bedeutsame Situationen)

Verschiedene Beispiele  – hier klicken
  • Rebecca (Kapitel 21 in „Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte“, Oliver Sacks, Englische Erstausgabe 1970) findet in Vorlesesituationen mit ihrer Grossmutter oder beim Anzünden der Schabbatkerzen zu ihrem poetischen Selbst (D.6.A: Literatur im Fokus)

  • Für Nina bieten Situationen, in denen sie mit Instrumenten und deren Vibrationen und Geräuschen in Kontakt kommt, eine Anregung, die eigene Stimme zu gebrauchen und auf das Erlebte zu reagieren. Ein dialogischer Austausch kann entstehen (M: Singen und Sprechen: DVK 2019, S.23)

Informationsquellen zu subjektiv bedeutsamen Situationen:

  • Familiärer und kultureller Hintergrund der Schülerin oder des Schülers
  • Situationsanalyse aus der Perspektive der Schülerin oder des Schülers
  • Relationales Verständnis von Behinderung: Nicht die Person per se ist behindert, sondern erlebt Behinderungen in bestimmten Situationen

Persönliche zusammenfassende Notizen
(Zeitaufwand < 10 Minuten)

Zusammenfassung Personalisierung

 

Bitte beachten: Die Notizen werden nicht abgespeichert. Sie müssen vor Verlassen des Kapitels exportiert werden. Dies kann auf der letzten Seite des Notizbuches gemacht werden.

Lizenz

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