Teil 2: Erweiterung der Fachbereiche

2.2. Kontextualisierung

Definition Kontextualisierung

«Kontextualisierung» bedeutet Einbettung von Lerngelegenheiten in einen geeigneten sozialen, thematischen oder räumlichen Kontext sowie die Nutzung von diesen Kontexten für neue Erfahrungen, das Kennenlernen neuer Lebenswelten und die Auseinandersetzung mit Menschen, Tieren und der Umwelt. So werden Fachinhalte und Themen erlebbar gemacht und der Aufbau von (Erfahrungs-)Wissen ermöglicht.

Die Schulische Heilpädagogin oder der Schulische Heilpädagoge beurteilt die Anschlussfähigkeit der Fachinhalte und Themen im Lehrplan 21 an die Vorerfahrungen und Lebenswelten des Kindes. Die Lern­umgebung und die Aufgabenstellungen werden so ausgestaltet, dass erfahrungsbasiertes Lernen in aktiver Auseinandersetzung ermöglicht wird. In der Broschüre wird unter «Kontextualisierung» jeweils aufgeführt, welche zentralen Erfahrungen die Fachbereiche und Module zu vermitteln suchen (vgl. DVK 2019, S.18-26).

(DVK 2019, S.14)

Möglichkeiten der «Kontextualisierung»

Bezüge schaffen zwischen Erfahrungen und fachspezifischem Wissen.

Sprachliche Lernsituationen werden so ausgestaltet, dass Bezüge zwischen Symbolen oder Zeichen einerseits und Gegenständen, Handlungen, Gefühlen oder Personen andererseits erfahrbar werden. Bedeutsame Erfahrungen (z.B. Weg zur Schule zurücklegen, Sonntag im Zoo) können in Bildergeschichten repräsentiert und erzählt werden. Oder die Wünsche des Kindes können aufgeschrieben und am nächsten Tag hervorgenommen und dann erfüllt werden. Zu allen Kompetenzbereichen (Hören, Lesen, Sprechen, Schreiben) können so bedeutsame literale Erfahrungen gemacht werden, auch wenn die im Lehrplan enthaltenen Kompetenzen noch nicht aufgebaut sind.


Alltagssituationen als Lern- und Bildungskontexte nutzen

Vertraute Situationen und Alltagshandlungen (z.B. Tisch decken, Windeln wechseln) werden genutzt, um fachbereichsrelevante Grunderfahrungen zu ermöglichen. Durch aktives Einbeziehen des Kindes in von Kommunikation begleiteten Routinen können Erfahrungen mit Mathematisieren (Aufbau von Erwartungen zu Verlauf, Seriation, Ordnen des Tuns) und Erfahrungen mit Körper, Raum und Gegenständen gesammelt werden.


Lernsituationen anschlussfähig an zukünftige Lebenswelten gestalten

Lerngelegenheiten werden so gestaltet, dass sie Elemente zukünftiger Lebenswelten vorwegnehmen und so Erfahrungen ermöglichen, welche das Problemlösen und die Orientierung in Beruf, Alltag, Beziehungen, Freizeit erleichtern. Dies kann durch die Wahl von Hilfsmitteln (z.B. Tablet statt Karten), Sozialform (z.B. Peer-Learning statt Instruktion durch Erwachsene), Problemlösestrategien (z.B. Umgang mit Konflikten lernen statt Verhaltensmodifikation) oder Lernumgebung (z.B. Supermarkt statt Klassenzimmer) erfolgen.

In der Broschüre wird auf S.32 beschrieben, welche weiteren Kontextualisierungsmöglichkeiten es gibt (DVK 2019).

Beispiel einer Lernsituation:
(Zeitaufwand < 4 Minuten)

Kontextualisierungsmöglichkeiten (Zeitaufwand < 5 Minuten) – hier klicken

 

In diesem Videoausschnitt wird exemplarisch dargestellt, wie Kontextualisierung im Schulalltag aussehen kann. Sie sehen Schüler einer Mittelstufe in einer Lernsituation zum Thema «Wege – ich finde mich in meiner Welt zurecht». Der Auftrag lautet, sich mit einem Plan orientieren zu können, um einen neuen Weg zur Migros zu finden. Die Schüler dokumentieren dabei, welchen Gebäude sie auf diesem Weg begegnen.




Kontextualisierung: Angebot zur Vertiefung
(Zeitaufwand  5 – 20 Minuten)

Kontextualisierungsmöglichkeiten

Lesen Sie die Möglichkeiten zur Kontextualisierung in der  Broschüre auf S. 32 nach: Welche wurden im Videoausschnitt «Weg zur Migros» angewendet?

 

Fachbezogene Erfahrungen

Vertiefen Sie sich in die Ausführungen der Broschüre auf S. 18-26. Beantworten Sie für sich ausgehend vom Videoausschnitt folgende Fragen.

  • Welche fachbezogenen Erfahrungen werden in dieser Situation ermöglicht?
  • Welches Potenzial beinhaltet diese Situation für weitere fachbezogene Erfahrungen?
  • Bitte stellen Sie Bezüge zu mehreren Fachbereichen/Modulen und entsprechenden Kompetenzen im Lehrplan 21 her (z.B. Fachbereich Deutsch:  1a; D.3.A.1) .

Was ist wichtig beim «Kontextualisieren»?

Kontextualisierung erfordert einerseits die Einschätzung des (Erfahrungs-)Wissens, des Erfahrungsraums und der Lebenswelten einer Schülerin oder eines Schülers mit komplexen Behinderungen. Andererseits erfordert Kontextualisierung eine aktivierende Gestaltung der Lernumgebung und eine Einbettung von Aufgaben in einen bedeutsamen Anwendungszusammenhang.

Lebensweltbezug

Wissen und Erfahrungen werden in Lebenswelten erworben und umfassen physische, soziale, kulturelle sowie persönliche Aspekte. Die Lebenswirklichkeit der Schülerin oder des Schülers ist von den Rahmenbedingungen beeinflusst, welche die Umwelt und andere Menschen geschaffen haben, aber auch von subjektiven Bedeutungszuschreibungen (vgl. dazu Personalisierung). Das Explorieren und Gestalten der eigenen Lebenswelt sowie das Herstellen von Bezügen zur eigenen Lebenswelt haben im Lehrplan 21 eine grosse Bedeutung.

Beispiele zur Kontextualisierung  (Lebensweltbezug)

Verschiedene Beispiele (Zeitaufwand < 5 Minuten) – hier klicken

 

  • Schulweg beschreiben




  • Erkunden der näheren und weiteren Umgebung

  • Projekte wie z.B. Pausenkiosk, Produkte für Bazar herstellen, Selbstversorgung: Einkaufen, Mahlzeiten zubereiten, Hygiene, etc.
  • Nutzen von Geschichten aus dem Kulturraum (Märchen, Sagen, Fabeln, etc.) und der Lebenswirklichkeit des Kindes (Samichlaus, Advent, Eid al-Fitr (Fest des Fastenbrechens), etc…)

Ausgehend von folgenden Fragen, soll immer wieder überprüft werden, ob die Lernsituation den geplanten Absichten entspricht.

  • Hat eine Aufgabe wirklich etwas mit der Lebenswirklichkeit des Kindes zu tun?
  • Welche bedeutsamen Kompetenzen kann sich die Schülerin, der Schüler in dieser Situation aneignen?

Informationsquellen zum Lebensweltbezug:

  • Kind-Umwelt-Analyse, Lebensweltanalyse, subjektive Wirklichkeit
  • Makrosituation, ökologischer Zugang
  • successfull listening: Nonverbal Narratives: Listening to People with Severe Intellectual Disability (Dennis, R. 2002)

Gestaltung der Lernumgebung

Durch eine authentische, anforderungsreiche und kohärente Gestaltung der Lernumgebung können Erfahrungen ermöglicht werden, die massgeblich zum Aufbau von Kompetenzen beitragen. So wird eine Zone der nächsten Entwicklung geschaffen, die experimentelles Lernen und kreative Auseinandersetzung in einem bestimmten sozialen, sensomotorischen und kognitiven Kontext unterstützt. Dabei ist die Lernumgebung so strukturiert, dass sie anschlussfähig ist an Vorerfahrungen und zur Exploration einlädt. Zum Einsatz kommen mehrere Interaktions- (z.B. Mimik und Gestik, Instruktion, Narration, Ko-Konstruktion) und Repräsentationsformen (z.B. Gegenstände, Symbole, Texte, Bilder, Audiodateien) sowie das Ansprechen mehrerer Sinnesmodalitäten.

Beispiele zur Kontextualisierung (Lernumgebung)

Verschiedene Beispiele  – hier klicken

 

Reichhaltige Lernumgebungen

  • Ryan before and after https://library.tsbvi.edu/Player/18398.
  • Little Room (Mikroumgebung ermöglicht einen Zugang zur Welt)
  • Ästhetische Räume für ästhetische Erfahrungen, Snoezelraum Klangwelten
  • Tiere im Klassenzimmer verändern Schulklima und laden zu Interaktionen ein
  • Strukturierte Lernumgebungen (TEACCH)
Strukturierte Lernumgebung«Kommunikationsznüni» – hier klicken

 

Kinder beim «Znüniessen»

Die Znünisituation stellt eine täglich wiederkehrende Situation dar. Die Schülerinnen und Schüler erhalten Gelegenheit aus einem reichhaltigen Angebot selber auszuwählen, was sie gerne essen möchten. Die Situation ist so ausgestaltet, dass jede Schülerin, jeder Schüler, die den Lernvoraussetzungen und Problemstellungen angepassten Hilfsmittel vorfindet, um die persönlichen Wünsche verbal (vokal oder nonvokal) anzubringen. Dabei steht der Kompetenzbereich Sprechen D.3.C.1.b  (können sich an Gesprächsregeln halten, Sprachroutinen entwickeln) im Vordergrund.

Unten sind  verschiedene nicht-elektronische, den Voraussetzungen der Kinder angepasste Hilfsmittel sichtbar, die sie bei ihren sprachlichen Aktivitäten unterstützen, mehr oder weniger strukturiert, mehr oder weniger komplex (vgl. TEACCH (Häussler 2016), PECS® (Picture Exchance Communication System), etc.)

Ausgehend von folgenden Fragen, soll immer wieder überprüft werden, ob die Lernsituation den geplanten Ansprüchen entsprechend ausgestaltet ist.

  • Passen die Angebote zu den Lernvoraussetzungen der einzelnen Schülerinnen und Schüler?
  • Bieten sie einen reichhaltigen Kontext sowohl in Bezug auf sozial-emotionale, sensorisch-motorische oder kognitive Aspekte?

Informationsquellen zur Gestaltung der Lernumgebung:

  • Themen und Inhalte des Lehrplans (fachwissenschaftliche Sachanalyse)
  • Analyse 2. Seite aus dem SSG (Umweltfaktoren)

Einbettung von Aufgaben in bedeutsamen Anwendungszusammenhang

Neben der Gestaltung der Lernumgebung ist die Qualität der darin gestellten Aufgaben von grosser Bedeutung. Der körperlich-emotionalen Ebene des Lernens und der Gesamterfahrung beim Durcharbeiten der gestellten Aufgaben wird besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Ein Fachinhalt oder Thema wird unter einer Anwendungsperspektive erschlossen, die für die Schülerin oder den Schüler sinnhaft und bedeutsam ist. Das Aufgabendesign ermöglicht eine kohärente Erfahrung, ein fachliches Konzept wird direkt mit dem Lernkontext verknüpft. Es ermöglicht verschiedene Beteiligungsformen für Schülerinnen und Schüler mit unterschiedlichen Kompetenzen.

Beispiele zur Kontextualisierung (Anwendungszusammenhang)

Verschiedene Beispiele (Zeitaufwand < 5 Minuten) – hier klicken

 

  • Handlungsschemata in bedeutsamen Situationen aufbauen, wie z.B. Schockolade auswählen/finden, Botengänge erledigen, Arbeitsplatz einrichten, etc.
  • In Situationen wahrnehmen/antizipieren können, was darin zu tun ist
    Beispiel«Bauchladen»: Ein- und verkaufen von Schockoladeneiern, etc.

Zentral für eine zielführende Ausgestaltung der Lernsituation sind folgende Fragen:

  • Entsteht ein bedeutsamer Anwendungszusammenhang?
  • Können in dieser Lernsituation für die Schülerin oder den Schüler bedeutsame Erfahrungen gemacht werden?
  • Sind diese Erfahrungen für den Kompetenzaufbau gemäss Lehrplan 21 relevant?

Informationsquellen zur Einbettung in Anwendungszusammenhang

  • Entwicklungsorientierte Zugänge im Lehrplan
  • Funktionalität von Lernkontexten, Situations-Handlungsanalyse, Handlungs-Strukturanalyse
  • TEACCH mit Ziel der Selbstbefähigung (Strukturierung der Aufgaben)
  • Universal Design for Learning.

Persönliche zusammenfassende Notizen
(Zeitaufwand < 10 Minuten)

Zusammenfassung Kontextualisierung

Bitte beachten: Die Notizen werden nicht abgespeichert. Sie müssen vor Verlassen des Kapitels exportiert werden. Dies kann auf der letzten Seite des Notizbuches gemacht werden.

Lizenz

Die Anwendung des Lehrplans 21 bei komplexer Behinderung Copyright © im Auftrag des VSA Zürich. Alle Rechte vorbehalten.