Teil 2: Erweiterung der Fachbereiche
2.1. Elementarisierung
Definition Elementarisierung
«Elementarisierung» bedeutet eine Reduktion auf das Wesentliche der im Lehrplan 21 enthaltenen Kompetenzen, insbesondere durch eine Auswahl wichtiger Teilaspekte von Kompetenzen (vgl. Kompetenzstufen). «Elementarisierung» wird im Zusammenhang mit der Komponente «Können» (Fähigkeiten und Fertigkeiten) verwendet.
Die Schulische Heilpädagogin oder der Schulische Heilpädagoge beurteilt auf dem Hintergrund ihres lernpsychologischen, didaktischen und entwicklungspsychologischen Wissens, wo und wie eine Elementarisierung angemessen ist. In der Broschüre wird aufgeführt, welche entwicklungslogisch vorgelagerten Fähigkeiten und Fertigkeiten für die verschiedenen Fach- und Kompetenzbereiche nicht im Lehrplan enthalten sind (vgl. DVK, 2019, S.18-26).
Auswahl grundlegenderer Fähigkeiten und Fertigkeiten
Kann die Schülerin oder der Schüler einen grundlegenderen Aspekt der beschriebenen Fähigkeiten oder Fertigkeiten erwerben? Beispiel zur Kompetenz «wichtige Informationen aus einem Sachtext entnehmen» (D.2.B.1): Grundlegender ist: «Wichtige Informationen aus einer Abfolge von Bildern entnehmen».
Vornehmen von Vereinfachungen
Kann die Schülerin oder der Schüler die geforderte Fähigkeit oder Fertigkeit erlernen, wenn die Komplexität bei der Ausführung reduziert wird? Beispiel zur Kompetenzstufe «Informationen aus unterschiedlichen Sachtexten unter Anleitung verarbeiten» (2g, D.2.B.1): Einfacher ist: «Wichtige Informationen aus einem Sachtext unter Anleitung verarbeiten».
Erweiterung der Kompetenzstufen
Kann die Schülerin oder der Schüler eine entwicklungslogisch vorgelagerte Fähigkeit oder Fertigkeit erlernen? Beispiel zur Kompetenzstufe «Aufmerksamkeit auf die sprechende Person und deren Beitrag richten» (1a, D.1.A.1): Entwicklungslogisch vorgelagert ist: «Lautlichen Äusserungen anderer Menschen folgen» (vgl. DVK. 2019, S. 18).
Beispiele
Diana und Nina als Anschauungsbeispiele – hier klicken
- Diana, 10 Jahre alt, besucht seit kurzem die 4. Klasse einer Sonderschule, nachdem sich in der integrativen Schulung zu viele Problemfelder aufgetan hatten, die nicht gelöst werden konnten. Sie ist eine Schülerin mit einer leichten kognitiven Beeinträchtigung.
- Nina, 5 Jahre alt, wurde vor kurzem in einen Kindergarten einer Heilpädagogischen Institution eingeschult und besucht an den Vormittagen den Kindergarten. Sie ist eine Schülerin mit schweren mehrfachen Beeinträchtigungen.
Anregung zur Vertiefung
(Zeitaufwand < 5 Minuten)
Elementarisierungsmöglichkeiten
Lesen Sie in der Broschüre auf den Seiten 30-31 nach, welche Elementarisierungsmöglichkeiten es gibt.
Studieren Sie die Beispiele für Diana und Nina.
Diana: Deutsch D.1.B.1 – hier klicken
Kompetenz, die gemäss Zyklus zu erwarten ist:
2e, D.1.B.1 Schülerinnen und Schüler können Hörtexten folgen, naheliegende implizite Informationen erschliessen und kurze Szenen (aus einer Hörgeschichte) nachspielen.
Strategie zur Elementarisierung -> Einfachere Ausführung der Kompetenz als gemäss Zyklus erwartet.
Elementarisiert für Diana:
Diana kann einfachem Hörtext (Raumdiktat) folgen, naheliegende Informationen erschliessen (Raumrichtung und Bewegungsart) und in Bewegung umsetzen.
Nina: NMG.1.1 – hier klicken
Kompetenzbereich NMG.1: Identität, Körper, Gesundheit – sich kennen und sich Sorge tragen
Kompetenz NMG.1.1: Die Schülerinnen und Schüler können sich und andere wahrnehmen und beschreiben.
Strategie zur Elementarisierung: Statt «können» andere Begriffe wie «erfahren» wählen.
Elementarisierte Kompetenz:
Nina erfährt sich und andere (z.B. über taktile Reize). Oder: Nina nimmt sich und andere wahr (z.B. in Bewegung).
- Entwickeln Sie eigene Beispiele dazu.
Was ist wichtig beim «Elementarisieren»?
«Elementarisierung» erfordert einerseits eine Erfassung der bereits erworbenen Fähigkeiten und Fertigkeiten, andererseits eine Einschätzung dazu, welche Fähigkeiten und Fertigkeiten für eine Schülerin mit komplexen Behinderungen für den weiteren Kompetenzaufbau zentral sind. Daraus kann abgeleitet werden, welche im Lehrplan vorgesehenen Fähigkeiten und Fertigkeiten («Können») besonders wichtig sind und wie diese angepasst werden können.
Blick in die Zukunft
Welche Fähigkeiten und Fertigkeiten sind besonders wichtig für den Aufbau zentraler Kompetenzen? Welche Kompetenzen tragen wesentlich zum Erreichen der Bildungsziele und somit zur Befähigung der Schülerin oder des Schülers bei? Zentral sind somit Fähigkeiten und Fertigkeiten, welche dem Kompetenzaufbau dienen. Hier muss möglicherweise eine Auswahl getroffen werden.
Beispielsweise ist es nur sinnvoll, die Fertigkeit zu erwerben, einzelne Buchstaben wiederzuerkennen, wenn dabei die Beziehung zwischen Buchstaben und Lauten hergestellt werden kann und ein Verständnis für Wörter als Bedeutungsträger aufgebaut werden kann. Gelingt dies nach mehrjährigem Üben nicht, sollte überlegt werden, ob es nicht zielführender wäre, über andere Fähigkeiten und Fertigkeiten einen Zugang zur Schriftsprache zu ermöglichen.
Es ist daher zentral neben remedialen Strategien, wo die Defizite der Lernenden aktiv angegangen werden, auch kompensatorische Strategien einzubeziehen, um fehlende Lernvoraussetzungen zu umgehen (vgl. Wember & Melle 2018, S.59f).
Beispiele zur Elementarisierung (Zukunftsbezug)
Nick, Diana und Nina – hier klicken
Nick Vujicic
- Für Nick Vujicic war es die Fertigkeit, sich trotz Fehlen von Armen und Beinen selbständig aufrichten zu können, deshalb übte er als Kind monatelang, bis er es schaffte. Diese Fertigkeit war Grundlage für den Erwerb von Kompetenzen in Bewegung und Sport (Laufen, Springen, Werfen, Gleiten, Rollen, Fahren), aber auch für die Erreichung der Bildungsziele gemäss Lehrplan 21 (Identität entwickeln, Potenziale erkunden, eigenständige und selbstverantwortliche Lebensführung sowie Teilhabe und Mitwirkung am gesellschaftlichen Leben).
Diana
- Diana hat grosse Schwierigkeiten Texte zu lesen und gleichzeitig zu verstehen. Sie kann aber gut aus Hörtexten Informationen entnehmen. Für sie mit ihrer starken Lese- und Rechtschreibstörung ist es wichtig, Strategien und Methoden zu kennen, wie sie Texte vorgelesen bekommt.
Nina (vgl. DVK 2019, S.37)
- Sich lautlich äussern können und dabei intentionale Kommunikationsfertigkeiten aufbauen ist zentral für Nina, damit sie mitbestimmen kann. Sie muss immer wieder erfahren, dass auf ihre Äusserungen kohärent reagiert wird.
Informationsquellen zum Zukunftsbezug:
- Kompetenzen im Lehrplan 21
- Im Team und mit den Eltern und dem Kind vereinbarte Bildungsziele (langfristig)
Ein Blick in die Vergangenheit
Welche Fähigkeiten und Fertigkeiten wurden bereits aufgebaut und sind somit verfügbar? «Elementarisierung» sichert die Anschlussfähigkeit an vorhandene Fähigkeiten und Fertigkeiten. Wer nicht auf bereits erworbenes «Können» aufbauen kann, kann auch nichts Neues lernen.
Beispiele zur Elementarisierung (Vergangenheitsbezug)
Luc, Diana und Nina – hier klicken
Luc
- Bevor Luc aus Texten Informationen entnehmen kann, muss er die Texte verstanden haben (D.2.B.1 Lesen: Verstehen von Sachtexten). Texte in einfacher Sprache verstehen ist eine Kompetenz, die Luc bereits aufgebaut hat.
- Bevor er sein Leseverhalten reflektieren kann, muss er sich Lesestrategien aneignen (D.2.D.1 Lesen: Reflexion über das Leseverhalten). Luc verfügt über grundlegende Lesestrategien, die er nun systematisch im Studium erweitert.
Nina (vgl. DVK 2019, S.37)
- Bevor Nina zur intentionalen Kommunikation kommt, muss sie Laute äussern und Signale von sich geben können. (vgl. DVK 2019, S.18). Sie äussert bereits einige Laute und lernt jetzt, diese gezielt einzusetzen.
Diana
- Bevor Diana neue Strategien und Methoden im Zusammenhang mit Vorlesefunktionen kennenlernt, muss sie Sicherheit in der Anwendung von Medien und Informatik gewinnen (MI.1.2 Medien und Medienbeiträge entschlüsseln). Dabei kann auf den vorhandenen Medienkompetenzen aufgebaut werden.
Informationsquellen zum Vergangenheitsbezug:
- Beobachtungen, Testergebnisse, Befunde
- Aktivitäten aus dem SSG (was kann das Kind, was kann es nicht?)
Ein Blick auf die gegenwärtige Situation
Welche Fähigkeiten und Fertigkeiten werden in den aktuellen Unterrichtssituationen und Lernumgebungen vorausgesetzt und welche Fähigkeiten und Fertigkeiten können in ihnen erworben werden? Werden Voraussetzungen und Ziele individuell kombiniert, können angepasste Lerngelegenheiten geschaffen werden. (siehe folgendes Kapitel 2.2. zur Kontextualisierung).
Beispiele zur Elementarisierung (Gegenwartsbezug)
Luc, Diana und Nina – hier klicken
Luc
- Luc kann die Ausbildung zum Assistenzlehrer absolvieren und dort an den Diskussionen teilnehmen, wenn er statt vorgängig Texte lesen zu müssen, Audiodateien in leichter Sprache benützen kann.
Diana
- Diana kann unter Anleitung die Bibliothek als Ort zur Lektüre- und Informationsbeschaffung nutzen, wenn sie ihre kommunikativen Fähigkeiten (Alltagsgespräche führen) optimal bei Lösung der gestellten Aufgabe einsetzen kann (Hilfe holen, wenn benötigt, kompensatorische Strategie).
Nina (vgl. DVK 2019, S.37)
- Nina kann intentionale Kommunikation aufbauen, wenn ihre Bezugspersonen kohärent auf ihre Lautäusserungen reagieren.
Informationsquellen zum Gegenwartsbezug:
- Lernsituationsanalyse zur Verbesserung der Partizipation (vgl. SSG Bereiche)
- Förderschwerpunkte aus dem SSG (was muss das Kind jetzt lernen), mittelfristige Ziele
- Massnahmen aus dem SSG (z.B. Verwendung von Hilfsmitteln)
Persönliche zusammenfassende Notizen
(Zeitaufwand < 10 Minuten)
Elementarisierung Zusammenfassung
Bitte beachten: Die Notizen werden nicht abgespeichert. Sie müssen vor Verlassen des Kapitels exportiert werden. Dies kann auf der letzten Seite des Notizbuches gemacht werden.