Vorwort des Herausgebers

Peter Klaver, Prof. Dr.

Stellen Sie sich vor, wir befinden uns zwanzig Jahre in der Zukunft: im Jahr 2041. Bildung für Alle ist noch immer eine Vision. Die Schweizer Gesellschaft braucht nach wie vor dringend qualifizierte Fachkräfte in der Heil- und Sonderpädagogik. Klassenlehrpersonen haben sich zwar Fähigkeiten angeeignet Kinder mit Lernschwierigkeiten am Unterricht teilhabenzulassen, aber können die individuellen Bedürfnisse und Fähigkeiten immer noch nicht zufriedenstellend erfüllen. Heilpädagog*innen setzen sich für Kinder ein, die mit Verhaltensschwierigkeiten und mentalen Problemen sowie mit schweren Beeinträchtigungen zu kämpfen haben, aber das spezialisierte Wissen über die Beeinträchtigungen und die pädagogischen Massnahmen sind verloren gegangen. Betroffene Kinder und Familien fühlen sich oft ausgeschlossen, missverstanden und mangelhaft unterstützt. Und wir fragen uns: Wie konnte das passieren?

Dann schauen wir zurück und finden in einem alten digitalen Archiv der HfH einen Forschungsbericht. Wir lesen und verstehen, dass sich die Forschung und Entwicklung in der Heil- und Sonderpädagogik in den ersten zwanzig Jahren seit Gründung der HfH stark entwickelt hat. Die junge Forschungsdisziplin der heil- und sonderpädagogischen Forschung etablierte sich und änderte sich mit dem Wandel der Gesellschaft und des Bildungssystems. Wir lesen, dass bewährtes und gelehrtes Wissen nicht ausreichte, um die Anforderungen der Forschung und Praxis gerecht zu werden. Wir lernen, dass sich der Fortschritt in der heil- und sonderpädagogischen Forschung im Selbstverständnis der HfH und ihrer Mitarbeitenden abbildet.

Wenn wir die Forschung im Bereich der Heil- und Sonderpädagogik aus heutiger Sicht betrachten, sehen wir, dass die HfH im Vergleich mit anderen pädagogischen Hochschulen eine besondere Stellung einnimmt. So zeigt sich, dass jedes zweite Forschungsprojekt, dass sich mit heil- und sonderpädagogischen Themen beschäftigt, an der HfH durchgeführt wird. Zudem konzentriert sich die Forschung und Entwicklung der HfH auf spezifische Behinderungen wie Hör-, Motorik- und Sehbehinderungen oder Autismus. Das sind Schwerpunkte, die an anderen pädagogischen Hochschulen fast nicht vorhanden sind. Die Forschung an der HfH fokussiert nicht nur auf Kinder im Schulalter – wie es die anderen pädagogischen Hochschulen tun –, sondern reicht von der heilpädagogischen Früherziehung bis zum Übergang von der Schule in den Beruf. Das Recht auf Bildung wird als ein Recht einer Person gesehen – und zwar nicht nur im Schulalter. Die Bachelor- und Masterstudiengänge Logopädie, Psychomotoriktherapie, Gebärdensprachdolmetschen und heilpädagogische Früherziehung prägen den Forschungsschwerpunkt an der HfH weiter. Wir sehen, dass die Forschenden sich um wissenschaftlich fundierte Lösungen innerhalb ihrer professionellen Fachbereiche bemühen – sie sind in der Ausbildung und Praxis verankert.

Seit dem letzten Forschungsbericht der HfH sind vier Jahre vergangen. Seither hat sich die HfH stark verändert: Es wurden fünf neue Institute gegründet, die von wissenschaftlichen und administrativen Unterstützungseinheiten getragen werden. Aber auch auf persönlicher Ebene gab es Veränderungen, darunter das Ableben unseres Kollegen und Leiters des Zentrums Forschung und Entwicklung der HfH, Martin Venetz. Dieser Bericht soll einen Blick auf die letzten vier Jahre Forschung an der HfH werfen – dies exemplarisch anhand einiger substanzieller Forschungsleistungen in dieser Zeit.

Das erste Kapitel der vorliegenden Publikation ist Martin Venetz gewidmet. Carmen Zurbriggen, seine Lebens- und Forschungspartnerin, würdigt darin seine wissenschaftlichen Leistungen und ihn als Menschen. Im ersten Teil des Berichts befassen sich fünf Beiträge mit der Forschung zur inklusiven Bildung und zur Bildung für Alle. Eine Methode sticht dabei besonders hervor: das Mixed-Methods-Design. Mixed-Methods-Designs nutzen quantitative Daten (z. B. Beobachtungen oder Fragebögen) in Kombination mit vertiefenden qualitativen Informationen (z. B. Interviews), was die Erarbeitung von Empfehlungen und die Entwicklung von Unterstützungsmaterialien verbessern kann. Das sind die fünf Beiträge des ersten Teils:

  • Kapitel 2: Der Beitrag «Inklusive Bildung und die Steuerung heilpädagogischer Angebote» gibt eine Übersicht über die Steuerungsmechanismen für heilpädagogische Angebote durch Politik und Verwaltung.
  • Kapitel 3: Der Beitrag «Inklusion in der Kindertagesstätte: Eine Mixed-Method-Studie zu Einstellungen und Selbstwirksamkeit von Betreuenden» zeigt, dass inklusive Überzeugungen von Mitarbeitenden in Kindertagesstätten zwar hoch sind, die Selbstwirksamkeit für die Inklusion von Kindern mit hohem Förderbedarf jedoch noch gering ist.
  • Kapitel 4: Der Beitrag «Was und wie gut misst der Perceptions of Inclusion Questionnaire? Qualität, Spezifität und (Weiter-)Entwicklung» ist eine Übersichtsarbeit über die Entwicklung und Validierung eines Instruments zur subjektiven Messung von Inklusion in Schulen.
  • Kapitel 5: Der Beitrag «Unterrichtsinteraktionen als Schlüssel zur Gestaltung integrativen Unterrichts: Die Konzeption der Interventionsstudie SURE» ist eine Studie, die überprüft, wie ein gemeinsames Training von Klassenlehrpersonen und schulischen Heilpädagog*innen die Qualität der inklusiven Unterrichtsinteraktionen verbessert.
  • Kapitel 6: Der Beitrag «Lernen mit Beeinträchtigung in der nachobligatorischen Schulzeit: Herausforderungen und Gelingensbedingungen» zeigt, wie Wohlbefinden und Schwierigkeiten in der Anforderungsbewältigung in Schule und Betrieb von der Art der Beeinträchtigung von jungen Erwachsenen abhängt.

Der zweite Teil des Berichts thematisiert Fragen darüber, wie Entwicklungsverläufe von Menschen mit Beeinträchtigung positiv beeinflusst werden können. Diese Art von Fragestellung verlangt nach Längsschnittdesigns, damit aus quantitativen Daten kausale Schlüsse gezogen werden können. In drei Beiträgen werden diese Themen exemplarisch dargestellt:

  • Kapitel 7: Der Beitrag «Die longitudinale Studie ZEPPELIN – Förderung ab Geburt von Kindern aus belasteten Familien» präsentiert Daten aus einer randomisierten kontrollierten Studie, inwiefern sich eine Intervention in belasteten Familien ab Geburt auf die Kinder langfristig auswirken.
  • Kapitel 8: Der Beitrag «Beruflich erfolgreich unterwegs dank niederschwelligen zweijährigen Ausbildungsgefässen? Endergebnisse aus einer längsschnittlichen Befragung von Lernenden» berichtet über die Möglichkeiten und Herausforderungen am Übergang in den Arbeitsmarkt von jungen Erwachsenen, die eine Grundausbildung mit eidgenössischem Berufsattest (EBA) oder eine praktische Ausbildung nach INSOS (PrA) gemacht haben.
  • Kapitel 9: Der Beitrag «Risikofaktoren bei Jugendlichen und ihre Auswirkungen auf den Berufserfolg. Ein Längsschnitt über 36 Jahre» untersucht Determinanten des beruflichen Erfolgs von Jugendlichen, die im Schulalter ein Risiko für einen niedrigen beruflichen Erfolg hatten.

Schliesslich zeigen zwei Beiträge, dass das Forschungsspektrum der HfH breit gefächert, gleichzeitig themenspezifisch in der Behinderungsart sowie ressourcenorientiert und innovativ in den Methoden ist. Computertechnologien und partizipative Methoden bereichern das Spektrum der heil- und sonderpädagogischen Forschung und stehen für eine hohe Qualität der Forschung und für Innovation innerhalb des Feldes:

  • Kapitel 10: Im Beitrag «Überprüfen von Gebärdensprachkompetenz mittels automatischer Gebärdenspracherkennung» geht es um Technologien des maschinellen Lernens, genauer: um die Erkennung von Gebärdensprache zur Unterstützung des Gebärdensprachelernens.
  • Kapitel 11: Der Beitrag «Partizipative Autismusforschung an der Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik in Zürich» beschreibt Prinzipien der partizipativen Forschung und diskutiert die partizipativen Methoden in drei aktuellen Projekten der Autismusforschung.

Jetzt sind wir im Jahr 2021 und ich überlasse es den Leser*innen zu sagen, ob die zukünftige heil- und sonderpädagogische Forschung dazu beitragen kann, die Ziele der Bildung für Alle zu erreichen. Es gibt sicher Hoffnung, denn ich sehe den Geist und die Sorgfalt der Forscher*innen in diesen Projekten, und ich bin überzeugt, dass die richtigen Fragen zur richtigen Zeit gestellt wurden. Aber ich denke auch, dass diese Projekte nur einen kleinen Schritt in die Richtung einer grösseren Vision sind. Es ist noch ein langer Weg, nicht nur für die Forschenden an der HfH, sondern für die heil- und sonderpädagogische Forschung als Ganzes, bis die inklusive Bildung wirklich verstanden und ermöglicht wird, bis Chancengleichheit in der Bildung hergestellt ist. Deswegen müssen wir auch in Zukunft die richtigen Fragen stellen und die nötigen Innovationen vorantreiben.

Ich bedanke mich herzlich für die grossartige Arbeit der Autorinnen und Autoren. Besonders danke ich Carmen Zurbriggen, Alumna der HfH und Professorin an der Universität Luxemburg. Sie hat mit einem persönlichen Beitrag zu Martin Venetz und einem wissenschaftlichen Artikel zur PIQ substanzielle Beiträge zu dieser Publikation beigesteuert. Ich bedanke mich bei Sabine Hüttche, Isabelle Laugery und Tabea Ruf von der Hochschulkommunikation für die Unterstützung bei den Grafiken und dem Webdesign. Sarah Frédérickx und Arlena Frey vom Digital Learning Center haben es im letzten Moment ermöglicht, den Bericht auf digital.hfh.ch zu veröffentlichen. Ich bedanke mich bei Ömer Even und Chantal Deuss für ihre nützlichen Tipps und bei der Pentaprim GmbH für das Korrigieren der Beiträge. Herzlich danke ich Dr. David von Allmen, der mich bei den Analysen und technischen Herausforderungen unterstützt und als kritischer Partner diese Publikation mitentwickelt hat. Und schliesslich geht mein Dank an die HfH-Rektorin Barbara Fäh, die mit dem Auftrag zur Erstellung dieses Forschungsberichts diesen erst ermöglicht hat.

Ich wünsche eine inspirierende Lektüre und Anregungen für Diskussion!

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