Evidenzbasierung in der Heil- und Sonderpädagogik
1 Interne, soziale und externe Evidenz
In der Heil- und Sonderpädagogik bietet sich ein breites Verständnis von Evidenz an (Blumenthal et al., 2019; Hillenbrand, 2015, 2017). Insbesondere werden drei Formen von Evidenz berücksichtigt, nämlich die interne, externe und soziale Evidenz (Sackett et al., 1996; Voss et al., 2016). Diese sind in Abbildung 1 dargestellt.
Die interne Evidenz kann als berufsbezogene Erfahrung der Fachperson sowie deren Haltung und Werte verstanden werden werden. Diese (Berufs-)Erfahrung respektive das Professionswissen und damit die reflektierte pädagogische Professionalität basiert sowohl auf der Aus- und Weiterbildung als auch auf der Tätigkeit in der Praxis.
Die externe Evidenz besteht hingegen aus aktuellen Erkenntnissen aus der Forschung. Dabei stehen vor allem bestmögliche Erkenntnisse aus empirischen Studien im Fokus. Erkenntnisse aus verschiedenen Studien können zusammengeführt werden, zu systematischen Literaturübersichten und Metaanalysen (siehe Punkt 3 Evidenzpyramide und Stufen der Evidenz). Unter externer Evidenz kann man in einem erweiterten Verständnis von Evidenzorientierung aber auch empirisch fundierte Theorien und Prinzipien zählen (Renkl, 2023).
Die soziale Evidenz rückt Bedürfnisse, Einstellungen, Werte und Wünsche der Lernenden sowie ihre aktuelle Lebenslage und das familiäre Bezugssystem in den Blick. Grundlage hierfür ist eine förderdiagnostische Erfassung von Bedarfen und Ressourcen.
Abbildung 1. Drei Formen von Evidenz. Eigene Darstellung, in Anlehnung an Blumenthal und Mahlau (2015, S. 409).
2 Prozess einer evidenzbasierten Praxis
Die Herausforderung der evidenzbasierten Praxis besteht darin, die interne, externe und soziale Evidenz zu generieren bzw. zu rezipieren, um sie dann gesamthaft abzuwägen und eine Entscheidung für eine Massnahme zu treffen. Blumenthal und Mahlau (2015) schlagen bezüglich der Triangulation der drei Formen der Evidenz ein Prozessmodell vor, das in Abbildung 2 dargestellt ist. In diesem Prozessmodell wird auf der Grundlage einer gezielten Fragestellung zunächst auf der Basis der internen und sozialen Evidenz eine Massnahme konzeptualisiert. Anschliessend wird über eine wissenschaftliche Recherche ermittelt, welche Massnahmen aus Sicht der externen Evidenz in Frage kommen. Hierzu kann die vorliegende Plattform Wissen, was wirkt! eine Hilfestellung bieten, indem externe Evidenz für verschiedene Massnahmen gebündelt dargestellt wird. Im nächsten Schritt werden die Erkenntnisse zur externen Evidenz vor dem Hintergrund der internen und sozialen Evidenz neu pädagogisch beurteilt. Dieser Beurteilungsprozess mündet in die Auswahl einer Massnahme und, falls nötig, deren Anpassung. Anschliessend wird die Massnahme umgesetzt und evaluiert. Aus diesem Prozess der Evaluation entsteht neue Evidenz, die aus der Praxis heraus generiert wird.
Insgesamt geht es auch um die Frage der (potenziellen) Wirksamkeit von pädagogischen Massnahmen und deren fallbasierten Evaluation in der alltäglichen Praxis (Link et al., 2017). Auch in der sonderpädagogischen Profession, in der Studien weitgehend fehlen, wie beispielsweise die Psychomotoriktherapie, ist eine evidenzbasierte Praxis möglich und wünschenswert (Gasser-Haas & Steiner, 2022).
Abbildung 2. Evidenzbasierter Entscheidungsprozess. Eigene Darstellung, in Anlehnung an Blumenthal und Mahlau (2015, S. 410)
3 Evidenzbasierte Praxis – Praxisbasierte Evidenz
Die evidenzbasierte Praxis wird in der Heil- und Sonderpädagogik teilweise kritisch hinterfragt (Ahrbeck et al., 2016; Müller & Pfrang, 2021; Willmann, 2020). In der Kritik steht insbesondere die alleinige Orientierung an der externen Evidenz. Diese wird oft unter „Laborbedingungen“ generiert, sodass die Ergebnisse nicht ohne Weiteres in die Praxis übertragen werden können.
Ergebnisse aus randomisierten und kontrollierten Studien weisen häufig auf durchschnittliche Effektgrössen hin, die als mittlere Wirksamkeit unter idealen Bedingungen verstanden werden könnte. Es handelt sich hierbei um ein abstraktes und theoretisches Konstrukt. Die Frage bleibt offen, wie sich diese Ergebnisse auf den Unterricht, eine spezifische Klasse oder einzelne Lernende übertragen lassen (Bauer & Kollar, 2023; Stark, 2017; Wilkes & Stark, 2023).
Ein Ansatz, der dazu dienen kann, diese Lücke zu überbrücken, ist die praxisbasierte Evidenz (Cook & Cook, 2016). Der zentrale Gedanke ist hierbei, dass Fachpersonen aus der Praxis in Zusammenarbeit mit Forschenden Massnahmen für einzelne Schule, Klassen oder Lernende basierend auf dem Prozess der evidenzbasierten Praxis identifizieren und umsetzen können. Integrativer Bestandteil der Umsetzung sollte dabei die Evaluation der Wirkung der Massnahme sein, beispielsweise durch kontrollierte Einzelfallstudien (Hövel & Hochstein, 2020; Council for Exceptional Children, 2014). Durch eine systematische Evaluation kann ermittelt werden, inwiefern die Massnahme unter realen, einzelfallbezogenen Bedingungen wirkt. Die Zusammenführung dieser und weiterer Befunde aus der Praxis kann wiederum Impulse für die Weiterentwicklung in der Forschung liefern. Dadurch kann die Rolle von spezifischen Bedingungen in der Praxis besser berücksichtigt und gar aktiv beforscht werden. Diese Erkenntnisse können die externe Evidenzbasis stärken und differenzieren, was wiederum die Wirksamkeit in der Praxis erhöht. Dadurch kann ein zirkulärer, sich stärkender Prozess entstehen, in dem Praxis und Forschung keine Gegensätze mehr darstellen, sondern ineinander übergehen, wie dies in Abbildung 3 dargestellt ist (Cook & Cook, 2016).
Aktuell findet sich in der Heil- und Sonderpädagogik im deutschsprachigen Raum ein Konsens über eine moderate Evidenzorientierung. Im Vordergrund steht die Integration von pädagogischem Professionswissen und wissenschaftlichen Erkenntnissen.
Abbildung 3. Beziehung zwischen praxisbasierter Evidenz und evidenzbasierter Praxis (nach Cook & Cook, 2016, S. 150)
4 Evidenzpyramide und Stufen der externen Evidenz
Um die Effektivität von Massnahmen beurteilen zu können, kategorisiert das Oxford Centre for Evidence-Based Medicine (2011) unterschiedliche Qualitätsstufen der Evidenz (Casale et al., 2014), wie dies in Abbildung 4 dargestellt ist. Evidenz wird hier in fünf Qualitätsstufen strukturiert, die von einer geringen Evidenz (Stufe 5) bis zu einer hohen Evidenz (Stufe 1) reichen. Diese fünf Stufen können als Grundlage für die Bewertung von Massnahmen dienen.
Am Anfang eines evidenzbasierten Prozesses steht die „gründliche Herleitung einer Theorie, auf der das Programm basiert“ (Casale et al., 2014, S. 38). Die Bewertung von pädagogischen Massnahmen erfolgt auf der theoretischen Fundierung und der Evidenzbasierung. Beschreibende Fallstudien und die Erfahrung von Fachpersonen können die Wirksamkeit und Nützlichkeit einer Massnahme begründen helfen und so zur Konzeption und Evaluation von geeigneten Förderprogrammen anregen. Im Hinblick auf die höheren Evidenzstufen ist anzumerken, dass Casale et al. (2014) darauf hinweisen, dass diese hierarchische Einteilung auch Einschränkungen mit sich bringt: Es gestaltet sich schwierig, im schulischen Umfeld der pädagogischen Feldforschung ein vollständig randomisiertes Kontrollgruppendesign umzusetzen. Dies liegt daran, dass Schüler:innen normalerweise nicht aus ihren Klassenverbänden herausgelöst und in neue Gruppen eingeteilt werden können. Daher handelt es sich bei vielen Studiendesigns, die von einem randomisierten Kontrollgruppendesign sprechen, eher um eine quasi-experimentelle Kontrollgruppenstudie.
Abbildung 4. Evidenzpyramide, eigene Darstellung, in Anlehnung an Casale et al. (2014, S. 38) und das Oxford Centre for Evidence-Based Medicine, 2011)
5 Literaturempfehlung
Für die individuelle Vertiefung empfehlen wir folgenden Artikel:
6 Referenzen
- Ahrbeck, B., Ellinger, S., Hechler, O., Koch, K. & Schad, G. (Hrsg.) (2016). Evidenzbasierte Pädagogik. Sonderpädagogische Einwände. Kohlhammer.
- Bauer, J. & Kollar, I. (2023). (Wie) kann die Nutzung bildungswissenschaftlicher Evidenz Lehren und Lernen verbessern? Thesen und Fragen zur Diskussion um evidenzorientiertes Denken und Handeln von Lehrkräften. Unterrichtswissenschaft 51, 123–147.
- Blumenthal, Y. & Mahlau, K. (2015). Effektiv fördern—Wie wähle ich aus? Ein Plädoyer für die Evidenzbasierte Praxis in der schulischen Sonderpädagogik. Zeitschrift für Heilpädagogik, 9, 408–421.
- Blumenthal, Y., Hartke, B. & Voß, S. (2019). The role of evidence‐based practice in German special needs education – State of research and discussion. Education Sciences, 9(2), 106.
- Casale, G., Hennemann, T. & Hövel, D. (2014). Systematischer Überblick über deutschsprachige schulbasierte Maßnahmen zur Prävention von Verhaltensstörungen in der Sekundarstufe I. Empirische Sonderpädagogik, 4, 33-58.
- Cook, B. & Cook, L. (2016). Leveraging evidence-based practice through partnerships based on practice-based evidence. Learning Disabilities: A Contemporary Journal, 14(2), 143–157.
- Council for Exceptional Children (2014). Council for Exceptional Children Standards for Evidence-Based Practices in Special Education. Abgerufen am 22.3.24 unter: https://exceptionalchildren.org/sites/default/files/2021-04/EBP_FINAL.pdf
- Gasser-Haas, O. & Steiner, J. (2022). Evidenzbasierte Praxis (EbP) in der Psychomotoriktherapie ist möglich – auch wenn Studien weitgehend fehlen. Motorik, 45(4), 164–169.
- Hillenbrand, C. (2015). Evidenzbasierung sonderpädagogischer Praxis – Widerspruch oder Gelingensbedingung? Zeitschrift für Heilpädagogik 66(7), 312–324.
- Hillenbrand, C. (2017). Evidenzbasierte Praxis im Förderschwerpunkt emotional-soziale Entwicklung. In R. Stein & T. Müller (Hrsg.), Inklusion im Förderschwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung (S. 170-215). Kohlhammer.
- Hövel, D. C. & Hochstein, L. (2020). Einzelfallbefunde zur Implementation des Marburger Konzentrationstrainings in den Mathe- und Deutschunterricht. Lernen und Lernstörungen, 9(1), 37–47.
- Link, P.-C., Müller, T. & Stein, R. (2017). Die sonderpädagogische Wirksamkeit von Trainings und Förderprogrammen und die Komplexität von Erziehung. In D. Laubenstein, & D. Scheer (Hrsg.), Sonderpädagogik zwischen Wirksamkeitsforschung und Gesellschaftskritik (S. 163–170). Klinkhardt.
- Müller, K. & Pfrang, A. (2021). Risiken und Nebenwirkungen einer naiv evidenzbasierten Grundschulpädagogik zu Inklusion und Partizipation. Zeitschrift für Grundschulforschung (ZfG), 2, 407–420.
- Oxford Centre for Evidence-based Medicine (2011). Levels of Evidence Working Group. The Oxford 2011 Levels of Evidence. Abgerufen am 22.3.24 von: https://www.cebm.ox.ac.uk/resources/levels-of-evidence/ocebm-levels-of-evidence
- Renkl, A. (2022). Meta-analyses as a privileged information source for informing teachers‘ practice? A plea for theories as primus inter pares. Zeitschrift für Pädagogische Psychologie, 36(4), 217-231.
- Renkl, A. (2023). Welche Art von Evidenz hilft Lehrkräften, ihren Unterricht zu verbessern? Abgerufen am 22.3.24 unter: https://www.campus-schulmanagement.de/magazin/welche-art-von-evidenz-hilft-lehrkraeften-ihren-unterricht-zu-verbessern
- Stark, R. (2017). Probleme evidenzbasierter bzw. -orientierter pädagogischer Praxis. Zeitschrift für Pädagogische Psychologie, 31, 99–110.
- Voss, S., Blumenthal, Y., Mahlau, K., Marten, K., Diehl, K., Sikora, S. & Hartke, B. (2016). Der Response‐to‐Intervention‐Ansatz in der Praxis. Evaluationsergebnisse zum Rügener Inklusionsmodell. Waxmann.
- Wilkes, T. & Stark, R. (2023). Probleme evidenzorientierter Unterrichtspraxis. Unterrichtswissenschaft 51, 289–313.
- Willmann, M. (2020). Deutungsmacht der Forschung, Ohnmacht in der Praxis? Evidenzbasierte Sonderpädagogik als Exlusionsrisiko. Emotionale und soziale Entwicklung in der Pädagogik der Erziehungshilfe und bei Verhaltensstörungen, 2, 222–232.