Aktuelle Forschung – kompakt

1. Die Rolle der morphologischen Bewusstheit für den frühen Schriftspracherwerb

Beeinflussen grammatikalische Leistungen von Kindern im Vorschulalter deren späteren Schriftspracherwerb? Forschungsarbeiten zu den Prädiktoren des Schriftspracherwerbs setzten sich bisher intensiv mit den Faktoren der phonologischen Informationsverarbeitung (phonologische Bewusstheit, phonologisches Arbeitsgedächtnis und Benennungsgeschwindigkeit) auseinander und die Ergebnisse belegen, dass diese Faktoren mit der Schriftsprachentwicklung eng in Beziehung stehen. Inwiefern jedoch frühe Leistungen der morphologischen Bewusstheit (MB) spätere schriftsprachliche Leistungen vorhersagen können, darüber ist im deutschsprachigen Raum insgesamt noch wenig bekannt. Die Morphologische Bewusstheit wird verstanden als die Fähigkeit, Morpheme zu erkennen und mit ihnen umzugehen (sie zu analysieren und zu manipulieren) (vgl. Carlisle, 1995).

Die Längsschnittstudie von Ewald und Steinbrink (2023) soll den Zusammenhang zwischen morphologischer Bewusstheit sowie schriftsprachlichen Leistungen bei Kindern mit deutscher Muttersprache beleuchten. Unter Berücksichtigung der Neuerungen des ICD-11, welche die Probleme in der Anwendung der korrekten Grammatik beim Schreiben als ein Symptom einer isolierten Rechtschreibstörung betrachtet, wurden bei Kindern zwischen fünf und sieben Jahren vor Schuleintritt die produktive und rezeptive MB anhand der drei Facetten Flexion, Derivation sowie Komposition erhoben und mit schriftsprachlichen Leistungen am Ende der ersten Klasse in Beziehung gesetzt. In den Jahren 2020 und 2021 wurden insgesamt 79 Kinder, welche einsprachig mit Deutsch als Muttersprache aufgewachsen sind, getestet. Bei den ausgewählten Kindern lag zu Beginn der Studienzeit keinerlei Einschränkung im Sprach-, Seh- und Hörvermögen, wie auch keine diagnostizierte Sprachstörung vor. Die Aufgaben zur Erfassung der MB wurden entweder aus Untertests von bereits vorhandenen Diagnoseinstrumenten verwendet oder eine Fassung aus englischen Testinstrumenten entwickelt wie auch bei bereits eingesetzten Aufgaben zur Wortbildung (Komposition) der Schwierigkeitsgrad für die vorliegende Stichprobe erhöht. Alle Aufgaben wurden vorgängig in einer Pilotstudie mit Kindergartenkindern des letzten Kindergartenjahrs erprobt.

Aus der Untersuchung geht hervor, dass das Leseverständnis und die Rechtschreibleistung am Ende der ersten Klasse durch verschiedene Aspekte der vor Schuleintritt gemessenen MB vorhergesagt werden können. Die Studienergebnisse zeigen deutlich, dass insbesondere Buchstabenwissen, aber auch Benennungsgeschwindigkeit und die phonologische Bewusstheit im engeren Sinn signifikant mit allen Lese-Rechtschreibschwierigkeiten korrelieren. Die vorliegende Studie ist die erste im deutschsprachigen Raum, welche belegt, dass schriftsprachliche Leistungen durch die produktive MB im Bereich Wortbildung (Derivation und Komposition) im Vorschulalter vorhergesagt werden können. Deshalb, so die Autor:innen, sollten zukünftige Studien ebenfalls die Rolle der produktiven Wortbildung für spätere Lese-Rechtschreibleistungen fokussieren. Um ein umfassenderes Bild zu erhalten, wären längsschnittliche Untersuchungen bis mindestens zum Ende der Grundschulzeit notwendig, da die Bedeutung der MB im Laufe des Schriftspracherwerbs wahrscheinlich zunimmt.

Die noch ausstehenden Studienergebnisse zur Vorhersage schriftsprachlicher Leistungen am Ende der zweiten Klasse durch sprachbezogene Leistungen vor Schuleintritt dürften zeigen, ob und wie sich das vorliegende Ergebnismuster mit steigender Lese-Rechtschreiberfahrung der teilnehmenden Kinder verändert. Die bisher gewonnenen Erkenntnisse könnten aber potenziell zu neuen Ansätzen in der Frühdiagnostik sowie Förderung von Lese-Rechtschreibschwierigkeiten führen und Impulse für die Entwicklung von Förderprogrammen zur Prävention von Lese-Rechtschreibschwierigkeiten liefern.

Quelle: Ewald und Steinbrink (2023)…..

Zusammengefasst von Gisela Bühler

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