Aktuelle Forschung – kompakt
2. Sprachenübergreifende Fördereffekte
Im wissenschaftlichen Diskurs über Sprach(en)bildung und Mehrsprachigkeit im deutschsprachigen Raum rückt zunehmend die Bedeutung der Nutzung der vorhandenen sprachlichen Ressourcen der mehrsprachigen Schüler:innen im Unterricht in den Fokus. Aktuelle Forschung betont dabei die Notwendigkeit einer mehrsprachigen Bildungspraxis, die den Herausforderungen und Anforderungen einer globalisierten Gesellschaft gerecht wird. In diesem Zusammenhang hat sich die Förderung von Familiensprachen im herkunftssprachlichen Unterricht als gängige Massnahme innerhalb einer primär einsprachig ausgerichteten schulischen Praxis etabliert. Hierbei wird erwartet, dass Lernende mit nichtdeutschen Familiensprachen ihre herkunftssprachlichen Fähigkeiten gezielt zur Entwicklung schulisch relevanter Deutschkompetenzen einsetzen (können) sollten.
Vor diesem Hintergrund argumentieren die Forschenden, dass mehrsprachige Schüler:innen mit der Einschulung ihre schriftsprachlichen und bildungssprachlichen Kompetenzen primär in deutscher Sprache entwickeln und dadurch über ausgeprägtere (bildungs-)sprachliche Ressourcen in Deutsch als in ihren Herkunftssprachen verfügen. In diesem Zusammenhang untersuchten sie im Rahmen einer Längsschnittstudie in elf 6. Klassen, wie sich im Schreibunterricht gezielte Massnahmen in deutscher Sprache auf die Qualität türkischer Texte auswirken. Die Studie analysierte zudem die Zusammenhänge zwischen der Qualität deutscher und türkischer Texte sowie zwischen den in beiden Sprachen durchgeführten Textüberarbeitungen. An der Studie nahmen 91 zweisprachige Schüler:innen teil, die sowohl am Deutsch- als auch am Türkischunterricht teilnahmen. Diese sollten defizitäre Figurenbeschreibungen von Superheld:innen überarbeiten. Dabei standen acht spezifische Textprozeduren im Fokus:
- Kategorisieren (die Figur vorstellen)
- Kontextuieren (die Umgebung der Figur beschreiben)
- Vergleichen (die Figur mit Dingen und Personen in Verbindung bringen)
- Strukturieren (die Figur in einer guten Reihenfolge beschreiben)
- Visualisieren (den Körper, die Kleidung und die Supergegenstände der Figur beschreiben)
- Verorten (den Platz der Supergegenstände beschreiben)
- Agentivieren (die Handlungsinstrumente und Handlungen der Figur beschreiben)
- Deuten (die Intentionen der Figur beschreiben).
Die Aufgaben zielten auf die Vermittlung und Anwendung von diesen spezifischen Textprozeduren, die für das Schreiben in der Sekundarstufe I als zentral angesehen werden. Der Ausgangstext bestand aus acht Sätzen, in denen je eine Textprozedur defizitär realisiert wurde. Das standardisierte Vorgehen in allen Schreibarrangements bestand darin, dass die Schüler:innen zunächst den Ausgangstext lasen und ihn mit einer visuellen Figurdarstellung abglichen. Die Interventionsgruppen erhielten zudem unterschiedliche Hilfestellungen zur Anwendung der Textüberarbeitung und schliesslich überarbeiteten die Schüler:innen den Ausgangstext.
Es wurde davon ausgegangen, dass der angemessene Gebrauch von Textüberarbeitungsschritten in engem Zusammenhang mit einer hohen Textqualität einhergeht.
Die Ergebnisse der Studie zeigen, dass Schreibfördermassnahmen, die im Deutschunterricht materialgestützt zu sprachen übergreifenden Textprozedurenschemata des Beschreibens durchgeführt wurden, zu signifikant besseren Beschreibungen im Türkischunterricht führten. Darüber hinaus zeigten sich signifikante interlinguale Zusammenhänge zwischen dem deutschen und dem türkischen Schreiben. Dies betraf sowohl das Schreibprodukt wie auch den Schreibprozess:
- Schüler:innen, die im Deutschen gute Texte schrieben, verfassten auch im Türkischen gute Texte.
- Schüler:innen, die im Deutschen bestimmte Überarbeitungsstrategien bevorzugten, nutzten diese auch im Türkischen.
Die Autoren schliessen daraus, dass plurilinguale Kompetenzen durch interlinguale Zusammenhänge gekennzeichnet sind und als dynamischer, lebenslanger Erwerbsprozess betrachtet werden sollten. Zudem demonstriert die Studie, dass der Erwerb von Schreibkompetenzen nicht auf eine einzelne Sprache beschränkt ist bzw. nicht an eine spezifische Sprache gebunden, sondern als transversale Fähigkeiten in mehreren Sprachen nutzbar sind. Zusammenfassend verdeutlicht die Studie, dass Schüler:innen unter geeigneten Interventionsbedingungen ihre, im Deutschen erworbenen Schreibkompetenzen auch beim Schreiben im Türkischen nutzen können. Es wird betont, dass diese Erkenntnisse unter quasi-experimentellen Bedingungen gewonnen wurden, jedoch auf reguläre Unterrichtsbedingungen übertragen werden könnten. Für die praktische Umsetzung wird auf eine entwickelte Broschüre und ergänzende Lernvideos verwiesen, die Lehrpersonen als Ressource dienen können.
Es wird empfohlen, das Potential interlingualer Kompetenzen für einen sprachfächerverbindenden Unterricht stärker zu nutzen, indem bei derjenigen Einzelsprache angesetzt wird, in der die betreffenden Kompetenzen der Schüler:innen am weitesten entwickelt sind, und an Teilkompetenzen zu arbeiten, die sprachenübergreifend relevant sind. Denn die Förderung bildungssprachlicher Ressourcen in der Unterrichtssprache Deutsch kann über sprachenübergreifende Transferprozesse zu einer Stärkung der Schriftsprachkompetenzen in den Herkunftssprachen beitragen. Besonders hervorgehoben wird die Notwendigkeit einer didaktisch fundierten, sprachenübergreifenden Förderung sowie einer gezielten Unterstützung nichtdeutscher Familiensprachen und einer engen Zusammenarbeit von Lehrpersonen verschiedener sprachlicher Fächer.
Zusammengefasst und bearbeitet von Aysel Kart und Karin Zumbrunnen
Quelle
Marx, N., & Steinhoff, T. (2022). Können einzelsprachliche Interventionen sprachenübergreifende Effekte haben? Wie die schulische Majoritätssprache Herkunftssprachen fördern kann. Zeitschrift für Pädagogik, 68(1), 5-27. https://doi.org/10.1007/s11618-021-01032-5