Hilfestellungen für die Praxis
4. Prüfung visueller Wahrnehmungsleistungen bei Verdacht auf LRS
Vorbemerkung
Beim Verdacht auf eine Lese- Rechtschreibstörung (LRS) sollte immer die Sehschärfe ebenso wie eine mögliche Korrektur augenärztlich geprüft werden. Aber auch bei bestmöglicher Sehschärfe können Schwierigkeiten in der visuellen Informationsverarbeitung auftreten, z.B. in der Formerkennung, Raumlage-Erkennung, Figur-Grund-Erkennung oder im visuellen Gedächtnis. Diese bleiben häufig lange Zeit unerkannt, weil sie für gewöhnlich nicht überprüft werden. Liegt die Ursache eines Lese- und Rechtschreibproblems in der visuellen Verarbeitung, dann können diese durch sprachliche Entwicklungsdefizite und unzureichende Lernangebote sogar noch verstärkt werden. Insbesondere eine Kombination kann Betroffene, Eltern und Fachpersonen vor grosse Herausforderungen stellen.
Die nachfolgenden Informationen, Empfehlungen sowie die Checkliste können dabei helfen, bislang unentdeckte visuelle Wahrnehmungsprobleme sichtbar zu machen.
Je nach Ausprägung braucht es weitere Massnahmen oder Abklärungen!
Beeinträchtigung der visuellen Wahrnehmungsfunktionen
Die visuelle Wahrnehmung umfasst viele Teilfunktionen. Durch gezielte Beobachtungen können erste informelle Rückschlüsse getroffen werden. Die nachfolgenden Schaubilder illustrieren Schwierigkeiten, die insbesondere in Lese- und Schreibsituationen auftreten können:
Problem | Kurzbeschreibung/ Auswirkung | Illustration/Simulation |
Crowding | Mangel an Trennschärfe zwischen den Buchstaben (–>langsames Lesetempo) |
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Raumlage | Dingkonstanz muss aufgegeben werden (–> Verwechslung von Buchstaben) |
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Formkonstanz | abgewandelte Formen erkennen (–>stockendes Lesen, erraten von Buchstaben) |
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Bildfusion | Verschmelzen der Bilder des rechten und linken Auges zu einem Gesamteindruck (–>Beschwerden über Doppelbilder und erhöhte Anstrengung, Leseunlust) |
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Akkommodationsprobleme | Anpassung der Linse an den Nahbereich (–>Leseleistung stark abhängig vom Leseabstand; dazu häufig Ermüdungserscheinungen) |
Schwierigkeiten können aber auch in der Blickmotorik (Fixation und Sakkaden), der Auge-Hand-Koordination, der visuellen Orientierung und im visuellen Gedächtnis auftreten. Häufig zeigen sich die Probleme erst in Lese- und Schreibsituationen, z.B. durch eine niedrige Leseflüssigkeit, eine niedrige Leseausdauer, der Auslassung von Wörtern, dem Erraten von Wörtern oder Buchstaben, der Verwechslung von bestimmten Buchstaben und Zahlen oder durch Auffälligkeiten im Schriftbild (z.B. Abstände zwischen den Buchstaben, Grösse der Buchstaben, diagonales Schreiben usw.).
Screening-Checkliste
Die hier verlinkte Checkliste stammt von Schuhmacher (2015, S. 190-193) und besteht aus vier Teilen:
- Bildschärfe und Fokussierung
- Augenbewegungen
- Binokularsehen
- Wahrnehmungsverarbeitung
Die Listen können zusammen mit Eltern und engen Bezugspersonen ausgefüllt werden. Liegt der Summenwert aus allen vier Teilen über 30, kann mit hoher Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden, dass ein Problem in der visuellen Wahrnehmung besteht. In diesem Fall sollten Kontaktstellen aus dem Förderschwerpunkt Sehen für eine vertiefte diagnostische Abklärung kontaktiert werden (siehe hierzu Kontaktstellen).
Kontaktstellen
Bei dem Verdacht auf ein schwerwiegendes Problem in der visuelle Wahrnehmung, können Kontaktstellen aus dem Bereiche Sehen weitere Abklärungen vornehmen. Diese Kontaktstellen sollten sich insbesondere mit dem Bereich CVI auskennen (CVI = Cerebral Visual Impairment). Institutionen mit diesem Schwerpunkt arbeiten oftmals interdisziplinär mit Ophthalmologie und Neuropädiatrie zusammen.
Zusammenstellung der Kontaktstellen
- Kompetenzzentrum Pädagogik Therapie Förderung
(bis 2022 Therapie Schulzentrum Münchenstein) (BS)
Baselstrasse 43,
CH-4142 Münchenstein - Heilpädagogisches Schul- und Beratungszentrum Sehen Sonnenberg (ZG)
Landhausstrasse 20,
CH-6340 Baar - Blindenschule Zollikhofen (BE)
Kirchlindachstrasse 49
3052 Zollikofen - Fokus Schule Sehen Zürich (ZH)
Eugen-Huber-Strasse 6
8048 Zürich - Tanne, Schweizerische Stiftung für Taubblinde (ZH)
Alte Dorfstrasse 3d
8135 Langnau am Albis - Centre pédagogique pour handicapés de la vue Lausanne (CPHV) (VD)
Avenue de France 30
1004 Lausanne - Unitas(TI)
via San Gottardo 49
CH-6598 Tenero - Obvita Sehberatung (SG/TG/Ostschweiz)
Schützengasse 4
9000 St. Gallen
Sonder- und heilpädagogische Massnahmen
Bei einem Verdacht auf eine Beeinträchtigung der visuellen Wahrnehmung können oftmals einfache Massnahmen einen grossen Effekt haben. Dazu zählen folgende:
- Der Text sollte im individuellen Vergrösserungsbedarf (VGB) angeboten werden. Um den optimalen Vergrösserungsbedarf einzuschätzen, werden im Förderschwerpunkt Sehen Leseproben eingesetzt. Der SZBLIND bietet Testverfahren für unterschiedliche Zielgruppen (z.B. Erwachsene und Kinder) und unterschiedlichen Sprachen zum kostenlosen Download an (Link: https://www.szblind.ch/lowvision-merkblaetter).
- Beleuchtung und Kontrast können die Lese- und Schreibleistung beeinflussen. Es ist deshalb wichtig, diese ggf. die visuellen Voraussetzungen anzupassen (z.B. mittels spezieller Arbeitsplatzleuchten oder farbigen Lesefolien).
- Bei der Auswahl der Schriftart eignen sich serifenlose Schriften.
- Das Textlayout kann einen grossen Einfluss auf die Leseleistung haben. Viele Personen mit einer Beeinträchtigung der visuellen Verarbeitung bevorzugen Texte mit einem erhöhten Zeichen- und Zeilenabstand. Diese können einfach im Texteditor angepasst werden. Tipp: In der App VoiceDreamReader für iOS können Vergrösserung, Beleuchtung, Kontrast und Textlayout sehr einfach angepasst werden.
- Viele Personen mit einer Beeinträchtigung der visuellen Verarbeitung sind überfordert von zu vielen grafischen Elementen. Diese können visuellen Stress und Ermüdung hervorrufen. Es ist deshalb wichtig, die Komplexität von Lern- und Arbeitsmaterial zu kontrollieren.
- Für Personen mit Schwierigkeiten in Okulomotorik können Schablonen und Fixationshilfen eine sinnvolle Lesehilfe sein.
- Die Platzierung kann ebenfalls einen Effekt auf Lese- und Schreibleistungen haben. Kinder mit Schwierigkeiten in der visuellen Verarbeitung sollten frontal und nicht seitlich auf die Tafel schauen. Im Nahbereich können Schrägpulte (mit ca. 20°) die Sehposition verbessern.
Weitere Tipps und Hinweise finden sich bei Henriksen und Laemers 2016. Falls Sie weitere diagnostische Informationen sammeln möchten, können Sie auch eine Testung mit dem FEW-3 durchführen (Frostigs Entwicklungstest der visuellen Wahrnehmung).
Autor dieses Artikels:
Fabian Winter, Prof. Dr.; fabian.winter@hfh.ch
Quellen
- Büttner, G., Dacheneder, W., Müller, C., Schneider, W. & Hasselhorn, M. (2021). Frostigs Entwicklungstest der visuellen Wahrnehmung – 3: Deutsche Bearbeitung des Developmental Test of Visual Perception, Third Edition (DTVP-3) von D.D. Hammill, N.A. Pearson und J.K. Voress. Hogrefe.
- Henriksen, A. & Laemers, F. (2016). Funktionales Sehen: Diagnostik und Interventionen bei Beeinträchtigungen des Sehens (1. Auflage). edition bentheim.
- Schumacher, H. (2015). Fehler muss man sehen: LRS und visuelle Wahrnehmungsstörungen erkennen und behandeln. tredition.