Einleitung

Studieren mit Behinderung

Inklusive Bildung an der Hochschule ist weitaus mehr, als Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung den Zugang zur Hochschule zu ermöglichen. So ist beispielsweise «Studieren mit Behinderung»[1] ein Feld, in dem seit vielen Jahren dafür gearbeitet wird, dass Menschen mit Beeinträchtigungen einen chancengerechten Zugang zur Hochschule bekommen. Damit Studierende inhaltliche und formale Qualifikationen in einem bestimmten Fachgebiet erwerben können, müssen Barrieren abgebaut, Universal Design etabliert und Nachteilsausgleiche angeboten werden.

Der Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen schreibt in seinen abschliessenden Bemerkungen zum Initialstaatenbericht zur Umsetzung der UNO-Behindertenrechtskonvention in der Schweiz: «Der Ausschuss stellt mit Besorgnis fest, dass immer noch Hindernisse für den Zugang zur […] Hochschulbildung für Studierende mit Behinderung, insbesondere für Studierende mit geistigen oder psychosozialen Behinderungen bestehen»[2]. Das Thema Studieren mit Behinderung ist demnach noch immer virulent. Die explizite Erwähnung von Studierenden mit «geistiger Behinderung» (nach dem im Bildungskontext gängigen bio-psycho-sozialen Modell sprechen wir in diesem Dokument von «Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung») zeigt, dass Menschen, die zu dieser vulnerablen und marginalisierten Gruppe gezählt werden, im Bildungssystem besonders an einer gleichberechtigten Teilhabe behindert werden.

Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung haben begrenzte Möglichkeiten in der Berufswahl und nur ein eingeschränktes Weiterbildungsangebot. Es gibt für sie in der Schweiz nach der Sekundarstufe 1 kein Bildungsangebot auf der Sekundarstufe 2 und in der Hochschule. Sie bekommen auf Antrag eine individuelle Massnahme (zwei Jahre Ausbildung PrA[3]) von der Invalidenversicherung IV finanziert. Häufig sind die Angebote auf eine Arbeitstätigkeit mit den Händen beschränkt. Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung werden vom lebenslangen Lernen «mit dem Kopf» weitgehend ausgeschlossen.

Das Hochschulprogramm «écolsiv» hat aufgezeigt, dass die Öffnung der Hochschule mit einer der Institution Staatsschule inhärenten Logik bricht: der Meritokratie. Zieldifferentes Lernen an der Hochschule geht über den Nachteilsausgleich hinaus. Wie in den hier entwickelten Argumenten sichtbar wird, sprengt die Zieldifferenz Kulturen, Strukturen und Praktiken der Institution Hochschule.

Deshalb ist den Begründungen, was möglich wird, wenn gemeinsames Lernen an der Hochschule eingeführt wird, einen grossen Stellenwert im Prozess der Öffnung der Hochschule für alle einzuräumen. Zieldifferentes Lernen als Zweck zu verstehen, dass Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung Zugang zu kognitiven Lernsituationen bekommen, ist ein wichtiger Schritt in der Hochschulentwicklung. Ein Schritt, der jedoch – und das muss unbedingt betont werden – keinerlei Präferenz gegenüber der Öffnung der Hochschule für andere von Diskriminierung betroffenen Menschen zugeschrieben werden soll. Es braucht weiterhin Massnahmen für die Vermeidung von Benachteiligungen für Menschen mit Behinderungen, welche die erforderlichen Qualifikationen für ein Hochschulstudium besitzen.

In diesem Sinne sind die Argumente und die Leitfragen in ihrer Vorläufigkeit zu lesen: Die Erfahrungen zeigen, dass sich einiges ändert und vieles in Frage gestellt wird, wenn die Hochschule und ihre Seminare für Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung geöffnet werden. Welche Erfahrungen gesammelt werden, wenn Menschen mit Fluchthintergrund, aber ohne Hochschulzugangsberechtigung, oder Menschen ohne Schulabschluss an Hochschulseminaren zugelassen wären, dies wäre mit konkreten Projekten zu ergründen.

Das Bildungssystem hat die Funktion, der ganzen Gesellschaft Bildung zu ermöglichen und daher muss Bildung in einer Demokratie allen zur Verfügung gestellt werden. Das ist das übergeordnete Ziel. Wir können uns vorstellen, dass der eine oder andere hier aufgelistete Inhalt auch dazu passt. Doch selbstverständlich sind die Argumente, Qualitätsaspekte und Leitfragen nicht als abschliessend zu deuten – nicht in Bezug auf die Öffnung der Hochschule für alle Interessierten, aber auch nicht in Bezug auf Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung, die sich bekanntlich untereinander gar nicht so ähnlich sind, wie die Kategorie suggeriert.


  1. Meier-Popa, Olga (2012). Studieren mit Behinderung. Berlin: Peter Lang.
  2. CRPD Abschliessende Bemerkungen zum Inititalstattenbericht der Schweiz (Übersetzung der offiziellen englischen Version auf Deutsch im Auftrag des EGBG (4.5.2022), S. 12
  3. PrA steht für «Praktische Ausbildung» und wird von INSOS, dem «nationale Branchenverband der Dienstleister für Menschen mit Behinderung» verantwortet. Siehe https://www.insos.ch/Ausbildung-PrA [abgerufen am 10.5.2024]

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